Eigentlich
war hier nicht beabsichtigt, die Mindestlohn-Initiative zu kommentieren. Zu einleuchtend
ist meines Erachtens das Argument, dass Alle, die Vollzeit arbeiten, in der
Lage sein müssen, mit ihrem Verdienst
auch einen anständigen Lebensunterhalt zu bestreiten. Es ist nicht
einzusehen, warum der Staat mit rund 100 Millionen via Sozialhilfe Unternehmen
subventionieren soll, die im Wettbewerb des freien Marktes nicht mit
anständigen Löhnen bestehen können.
Aber
neuerdings wird auch argumentiert, die Berufsbildung würde durch die
Mindestlöhne gefährdet, da einerseits die Jugendlichen keinen Anreiz mehr
hätten, sich ausbilden zu lassen, und andererseits die Unternehmen es sich
nicht mehr leisten könnten, bei solchen
Löhnen auch noch Lehrstellen zu schaffen (siehe Ursula Renold, NZZ am Sonntag
vom 27. April 2014). Und da ja in der Mythologie zur historischen Erfolgsgeschichte der
Schweiz die Berufsbildung etwa auf dem Level von Tells Apfelschuss figuriert,
lohnt es sich doch, diese Argumente etwas näher zu betrachten.
Logik 1
Das erste Argument behauptet, mit einem Mindestlohn von CHF 4000 hätten
die Jugendlichen keinen Anreiz mehr, eine Lehre anzutreten; sie würden lieber direkt in den Arbeitsmarkt
gehen und einen Normallohn beziehen. Nun mag ja kurzfristiges Profitdenken in
der Wirtschaftswelt durchaus weit verbreitet sein; auf dieser Schiene fahren
die Jugendlichen jedoch offensichtlich nicht. Bereits heute könnten sie ja in
einem Volljob als Ungelernte wesentlich besser verdienen als mit dem kleinen
Lehrlingslohn. Und wenn man das Argument zu Ende denkt, gäbe es kaum mehr
Ärzte, Notare oder Ingenieure. Eine gymnasial-akademische Karriere bedeutet ja,
nach der obligatorischen Schule während
acht bis zehn Jahren Ausbildung, keinen Lohn zu erhalten. Jugendliche denken
offensichtlich langfristiger, und ein guter Mindestlohn nach der Lehre macht
die Berufsausbildung wesentlich attraktiver als heute, wo rund 10% der
Berufsleute mit Lehrabschluss auf einer Tieflohnstelle sitzen.
Und
dass viele Lehrstellen unbesetzt bleiben, liegt nicht daran, dass die jungen
Leute den direkten Einstieg in eine Normalstelle bevorzugen, sondern ist die
Folge der teilweise überrissenen Anforderungen, welche die Arbeitgeber an die
Lehrstellen Suchenden stellen, wie Margrit
Stamm in einer Studie festgestellt hat.
Logik 2
Das
zweite Argument besagt, die Betriebe hätten bei so hohen Mindestlöhnen keine
Mittel mehr, Aus- und Weiterbildung zu betreiben. Nun ist ja die
Berufsausbildung ebenso wie die Weiterbildung nicht eine Wohltätigkeits-Aktivität
der Unternehmen, sondern folgt ebenso der ökonomischen Logik wie das
Alltagsgeschäft. Der Schweizerische
Bildungsbericht 2014 (Seite 134) ist dieser Frage nachgegangen und zeigt,
dass die Berufsausbildung für die beteiligten Betriebe eine profitable Angelegenheit
darstellt. Die Lernenden erbringen während der Lehrzeit ja auch produktive Beiträge
in Form von Arbeit, und diese Beiträge übersteigen die Kosten der
Ausbildungsleistungen der Betriebe. Das heisst, die ausbildenden Betriebe benutzen
die Lernenden als billige Arbeitskräfte und profitieren von ihnen. Dies ist der
direkte Nutzen. Der indirekte Nutzen besteht gemäss Bildungsbericht
darin, dass es später teurer käme, die Leute anzulernen. Und ähnlich dürfte es
sich bei der Weiterbildung verhalten. Nun ist ja zu erwarten, dass bei
steigenden Kosten der Normallöhne versucht wird, mehr von den billigeren
Arbeitskräften (Lehrverhältnisse) zu profitieren. Gemäss der Profitlogik
dürften also eher mehr Lehrstellen als weniger geschaffen werden.
Die Legendenbildung
zum nationalen Wohlbefinden ist nicht ein unschuldiges Geschäft. Sie dient
vielfach den Interessen der privilegierten Schichten und damit der Verfestigung
bestehender Machtverhältnisse. Allerdings zeigt ein etwas genauerer Blick oft,
dass sie mit Logik oder empirischer Realität wenig zu tun haben. Tells Apfelschuss
kann auch daneben gehen.