Früher meinte man, Kriminalität sei erblich
bedingt und könne anhand der äusserlichen Erscheinungen festgestellt werden. Eine
solche biologistische Sichtweise findet sich vor allem in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts. Sie beruht auf der soziobiologischen Grundannahme, dass
Verhaltensunterschiede vor allem genetisch bedingt seien und bildete die
Grundlage für allerlei Gräueltaten - meist rassistisch begründet - im 20.
Jahrhundert. Ein wichtiger Vertreter dieser Richtung war etwa Cesare Lombroso,
ein italienischer Arzt und Professor der Gerichtsmedizin, mit seinen Schriften zu
Verbrechern und ihren körperlichen Veranlagungen. Auch Samuel R. Wells, der ein
umfangreiches Werk zu Physiognomie und Charaktermerkmalen geschrieben hat, vertritt solche Ansätze.
Wells (1875, S.126) ; Horn (2003, S 22) |
Bis man sich bewusst wurde, dass Kriminalität
eine gesellschaftliche Konstruktion ist.
Kriminell ist, was von der Gesellschaft - dem Gesetzgeber - als
kriminell bezeichnet wird. Z.B. sind 72
Mio Abgangsentschädigung für einen Wirtschaftsführer nicht kriminell. Hingegen
ist Ladendiebstahl ein Gesetzesbruch. Und langsam setz sich auch die Erkenntnis
durch, dass deviante Verhaltensweisen nicht angeboren und ererbt, sondern ebenfalls
- mit einigen wenigen Ausnahmen - sozial gemacht sind: Menschen wachsen in
unterschiedliche soziale und kulturelle Welten hinein und leben unter
unterschiedlichsten Lebensbedingungen, welche auch zu unterschiedlichen
Verhaltensmustern führen.
In der Bildung sind wir noch nicht so weit.
Zwar meint Duru-Bellat (2002), kein seriöser Wissenschaftler würde heute noch
die Vererbung als entscheidenden Prozess der intellektuellen Entwicklung
betrachten, im Alltag der Bildungsdiskussion jedoch wird nach wie vor in diesen
Kategorien gedacht und gehandelt. Da wird von „Begabten“ und „wenig Begabten“
gesprochen, als ob schulische Eignungen eine genetisch bedingte, angeborene Eigenschaft
wäre. Auch das sogenannte meritokratische Prinzip mit der Formel Schulerfolg = Talent + Leistung beruht im Grunde genommen auf solchen Annahmen. Dabei werden „Begabte“ speziell gefördert und haben eine strahlende
Zukunft vor sich. Und so wie Kriminelle in Anstalten abgeschoben werden, um sie
zu "re-sozialisieren", werden in der Schule „weniger Begabte“ in
Sonderklassen und Sonderschulen platziert, um ihre intellektuellen Defizite zu
beheben. Stigmatisiert werden beide und vielfach sind es, in beiden Fällen, diese
Korrekturmassnahmen und ihre stigmatisierende Wirkung, welche für die
Integrationsprobleme in die Gesellschaft verantwortlich sind. Also gerade das
Gegenteil von dem, was vordergründig beabsichtigt wird.
Auch in der Bildung wird vergessen, dass die
schulischen Standards nicht vom Himmel fallen, sondern gesellschaftliche Konstrukte
darstellen. Dass Sprache, Mathematik und Naturwissenschaften wichtiger sind als
Geographie, Turnen und Musik, ist nicht
gottgegeben, sondern von uns Menschen so festgesetzt. Und dass einige Kinder
mit diesen Standards besser und andere weniger gut zurechtkommen, ist auch
nicht genetisch bedingt oder von einer höheren Macht vermittelt, sondern
vielfach die Folge davon, dass diese Standards eben den
Sozialisationsbedingungen einzelner Bevölkerungsgruppen besser oder weniger gut
entsprechen.
Die schlechten SchülerInnen sollten sich also
merken (und die guten ebenso), dass ihre schwache / starke Position in der
Schule nicht Schicksal ist, nicht vom Indianer im Baum oder anderen höheren
Mächten so zugeteilt sind, sondern gesellschaftlich gewollt und somit
korrigierbar ist. Sowohl auf der individuellen Ebene als auch strukturell,
durch andere Leistungsdefinitionen, durch andere strukturelle Ausgestaltungen
und durch andere Prozesse der Förderung und der Selektion.
___________________________________________________
Duru-Bellat,
Marie (2002), Les inégalités sociales à l'école. Genèse et mythes. Paris:
Presse Universitaire de France
Horn,David
G.(2003), The Criminal Body: Lombroso and the Anatomy of Deviance. New York: Routledge.
Lombroso,
Cesare (1894), Der Verbrecher (homo delinquens) in anthropologischer,
ärztlicher und jusristischer Beziehung . Hamburg:
Verlagsanstalt und Druckerei AG
Wells, Samuel R.(1875), The New Physiognomy or
Signs of Character as Manifested through Temperament and External Forms
and Especially in “The Human Face Divine”. New York: S.R. Wells
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