Marina* hat Probleme in der Schule. Nur mit Mühe konnte sie
in den vergangenen Jahren vermeiden, in eine Sonderklasse platziert zu werden
oder Schuljahre repetieren zu müssen. Marina ist die Tochter von eingewanderten
Eltern aus Südeuropa, welche beide keine nachobligatorische Ausbildung
abschliessen konnten und deshalb nur Jobs finden, welche finanziell keine
grossen Sprünge erlauben. Die Eltern würden zwar alles für ihre Tochter tun, ihre
Möglichkeiten sind allerdings beschränkt; sowohl finanziell als auch von der
Ausbildung her. Auch mit ihrem Beziehungsnetz können sie ihr Kind nur wenig bei
seinen Schulproblemen unterstützen.
Marinas Probleme sind typisch für Kinder aus benachteiligten
Familien. Forschung und Statistik zeigen, dass der Schulerfolg für sie viel
schwieriger ist als für Kinder aus oberen Schichten. Selektivität und soziale
Ungleichheit werden denn auch in der Bildungswissenschaft langsam (wieder) zum
Thema, zumindest bei einigen VertreterInnen - und zaghaft auch in der
Bildungspolitik. Vielfach werden dabei Erklärungsmodelle des französischen
Soziologen Raymond Boudon beigezogen. Gewissermassen als Vorläufer der Rational
Choice Theory begründet sein Ansatz, den er bereits 1973 entwickelt hat, die
Schwierigkeiten sozial benachteiligter und die Erfolge sozial bevorteilter
Kinder in der Schule mit individuellen Merkmalen und Prozessen der Betroffenen und
ihrer Familien. Summarisch dargestellt (in Anlehnung an Becker 2009) funktioniert
das etwa so:
Nach diesem Modell sind also Marinas Probleme
hausgemacht. Einerseits sind beim
Eintritt in die Primarschule ihre vorschulischen Fähigkeiten, insbesondere die
sprachlichen Kompetenzen, weniger weit
entwickelt als bei ihren KameradInnen aus besserem Hause. Zudem können die
Eltern ihre Tochterauch weniger bei den Hausaufgaben unterstützen, und sie
besitzen auch weniger Durchsetzungsvermögen, um ihre Interessen gegenüber der
Schule geltend zu machen; wahrscheinlich sitzen sie nicht in der
Schulkommission und kennen auch niemanden, der dort mitwirkt. Schliesslich sind
sie weniger ehrgeizig und geben sich bereits mit einer minimalen Schulbildung
zufrieden; weiterführende Bildungskarrieren würden ja nur kosten und solche
Investitionen sind zu riskant. Soweit also das Erklärungsmodell von Raymond
Boudon.
Aber HALT! Da ist doch noch ein Akteur, der in diesem Feld
mitspielt: Das Bildungswesen, die Schule. Dieser Akteur wird bei Boudon quasi
weissgewaschen. Er wird von der Verantwortung für die Weiterführung sozialer
Ungleichheiten entbunden. Dabei zeigt doch der andere grosse Soziologe aus Frankreich,
Pierre Bourdieu, zusammen mit Jean-Claude Passeron (1970), wie sehr die
Funktionsweise der Schule, ihre Mittelstands- und Oberschichtskultur, ihr „Habitus“
zur Reproduktion gesellschaftlicher Hierarchien beiträgt. Und seit
Bourdieu-Passeron haben in aller Welt die Wissenschaftler die Verantwortung der
Schule in diesem Bereich dokumentiert und die schulischen Mechanismen der Benachteiligung
sozial Schwächerer analysiert. In späteren Beträgen wird auf diese Mechanismen
einzutreten sein.
Hier geht es vorerst darum, die Verantwortung der
Bildungsakteure in diesem Bereich wieder herzustellen. Und dabei auch ihre
Kompetenz anzuerkennen. Denn sie können das; sie sind durchaus kompetent, die richtigen
Massnahmen zu treffen, um die aus der Herkunft entstehenden Massnahmen zu
treffen: Ausbau der vorschulischen Bildungsangebote (und zwar vor dem HarmoS-
Schuleintrittsalter von 4 Jahren), grundsätzlich Integration der Schwächeren
und Benachteiligten, Tagesschulen, Hinausschieben der Selektion, Ent-Ökonomisierung der Sekundarstufe
II, Unterstützung auf der Tertiärstufe, Förderung im Erwachsenenalter - so
könnte etwa ein Programm aussehen, das sich auf die effektive Chancengleichheit
verpflichtet. Andere Länder machen es vor, ohne dass das allgemeine
Leistungsniveau sinkt - im Gegenteil. Also gehen wir an die Arbeit.
Becker, Rolf (2010). Entstehung und Reproduktion dauerhafter
Bildungseinrichtungen. In: Becker, Rolf (Hrsg.). Lehrbuch der Bildungssoziologie (S. 85-129). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Bourdieu, Pierre und Passeron
Jean-Claude (1970). La Reproduction. Eléments pour une théorie du système
d'enseignement. Paris: Les Edition de Minuit.
*Fiktiver
Name