Heinz
Gilomen
Zahlreiche Schülerinnen und Schüler der
Oberstufe brauchen Nachhilfe-Unterricht, um ins Gymnasium zu kommen. Das
beweist nichts anderes, als dass die akademische Eignung „gemacht“ werden kann
und wenig mit Begabung zu tun hat. Die Frage ist nur, warum die Schule diesen
bescheidenen Zusatzaufwand nicht selbst betreibt.
Kürzlich
gab es etwas Aufregung in den Schweizer Medien: Eine Studie der
Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) hat ergeben,
dass rund jede(r) dritte Schüler(in) im 8. und 9. Schuljahr Nachhilfe benötigt.
Innerhalb von drei Jahren ist der Prozentsatz von 30 auf 34% gestiegen, was
laut dem Direktor der SKBF „enorm“ ist1). (Na ja…, siehe auch Signifikanz
und Relevanz). Die Jugendlichen gehen vor allem in den bezahlten
Nachhilfeunterricht, um bessere Chancen zu haben, ins Gymnasium zu kommen. Dadurch
werden Kinder von Eltern mit höherem Einkommen bevorteilt.
Meritokratie
entzaubert - Teil 1: Das Akademiker-Gen. Nun glauben wir ja alle an das Leistungsprinzip: Erfolg hat, wer etwas
leistet. Dabei ist nicht nur der Aufwand wichtig, sondern auch die sogenannte
Begabung. Michael Young hat das 1958,2) als Meritokratie formuliert (Man kriegt, was man verdient):
Nun zeigen allerdings die
Resultate der SKBF-Studie, dass die Eignung für das Gymnasium und die
universitäre Laufbahn produziert werden kann. Begabung ist nicht so wichtig. Ein paar Stunden Zusatzaufwand, und schon wird aus einem mittelmässigen Schüler offensichtlich ein Maturitätskandidat. Bereits Jürg
Jegge (1994)3) meinte ja vor rund 40 Jahren „Dummheit ist
lernbar“; gescheit sein offensichtlich auch.
Damit können wir beim Prinzip
der Meritokratie, das den Schulerfolg als Funktion von Talent und Fleiss sieht,
den ersten Teil schon mal streichen:
Es wäre
ja auch absurd, zu glauben, dass bei der Geburt der liebe Gott (oder sonst jemand)
bei ca. 20% der Kinder willkürlich ein Akademiker-Gen einpflanzt, das dann im
Laufe der Bildungskarriere nur noch aufgedeckt werden müsste. Und wenn wir uns
die Verteilung der kantonalen Maturitätsquoten unter diesem Blickwinkel
anschauen, würde die These ja noch unglaubwürdiger.
Heinz Gilomen 2014 / Daten: BFS
Die armen St. Galler! Die werden bei der Verteilung
der Akademiker-Gene ja richtig benachteiligt – und dies übrigens seit Jahren!
Dafür habe es die Tessiner, Basler und Genfer gut: Sie kriegen fast 2.5 Mal
mehr universitäre Anwärter als die Ostschweizer. Aber Spass beiseite – bei der
Begabungs-These müssen wir offensichtlich grosse Fragezeichen setzen (siehe
dazu auch Verbrechergene und
Bildungstalente).
Auch die SKBF Studie spricht davon, dass die Kantone unterschiedliche Maturitätsquoten aufweisen, „die nicht durch Unterschiede in den Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu erklären sind“ (S.19). Und in derselben Ausgabe der Sonntagszeitung1) wird auf eine Untersuchung von Elsbeth Stern der ETHZ verwiesen, gemäss der rund ein Drittel der Gymnasiasten einen zu geringen Intelligenzquotienten aufweist. Das zeigt ja auch die Fragwürdigkeit des IQs als Indikator des Bildungserfolges. Offensichtlich hat die sogenannte Begabung nur einen untergeordneten Einfluss, und es sind andere Faktoren am Werk. Wir können also getrost auf den Talent-Teil in der Meritokratie-Formel verzichten.
Meritokratie entzaubert - Teil 2: Das Fleiss-Gen. Dafür scheint der zweite Teil der Gleichung aufzugehen, wird doch der Nachhilfe-Unterricht in den Kontext der Zugangschancen zum Gymnasium gestellt: Zusätzlicher Aufwand, also Nachhilfe, wird belohnt und die Chancen auf einen Platz im Gymnasium steigen. Also ohne Fleiss kein Preis, bzw. mit viel Fleiss winkt der Gymi-Preis.
Aber
so einfach ist die Sache auch hier nicht. Die Rest-Gleichung Talent + Fleiss = Erfolg würde eigentlich
heissen, dass mit gleichem Aufwand der gleiche Erfolg eintreten sollte.
Das
würde ja aber in Bezug auf die oben stehende Grafik auch heissen, dass
Tessiner, Basler und Genfer mit ihrer hohen Maturaquote fleissiger sind, und
etwa St. Galler, Thurgauer oder Solothurner wesentlich fauler. Die Kinder der
ersten drei Kantone würden dann gewissermassen vermehrt mit einem Fleiss-Gen
bedacht, das in den letzteren Kantonen nur selten zum Zuge kommt. Auch das ist wohl
keine überzeugende Erklärung.
Zudem
müssten ja jene Kantone, in denen mehr Nachhilfe konsumiert wird, also
fleissiger Aufwand betrieben wird, auch höhere Maturitätsquoten haben. Und
umgekehrt. Allerdings zeigt die SKBF-Studie,
dass im Gegenteil die Nachfrage nach Nachhilfe steigt, je niedriger die
Maturitätsquote in einem Kanton liegt; dies vor allem auch von guten
Schülerinnen und Schülern.
Es
gehe also nicht darum, mit einem Zusatzaufwand seine Kompetenzen auf ein imaginäres
allgemeingültiges gymnasiales Niveau zu bringen, sondern je nach kantonalen Rahmenbedingungen
im Wettbewerb um gymnasiale Plätze einfach etwas besser dazustehen als die
anderen (S. 19). Meritokratie und Leistungsprinzip nur innerhalb des jeweiligen
Kantons also.
Kantone
sind jedoch keine homogenen Gebilde. Gemäss einer Studie des Kantons Bern sind
die Differenzen zwischen den einzelnen Gemeinden enorm, wenn es um die
Zuteilung auf verschiedene Niveaus der Sekundarstufe geht. Und da fallen ja
folgenschwere Entscheide in Bezug auf die weitere Bildungskarriere. So werden
beispielsweise in der einen Gemeinde nur 3% der Schüler und Schülerinnen in die
Stufen mit dem tiefsten Niveau eingeteilt, am anderen Extrem sind es 63%. Dies
mit unterschiedlichen Begabungen oder mit unterschiedlichem Fleiss erklären zu
wollen, wäre wohl abenteuerlich. Damit können wir ja nun auch den zweiten Teil
des Meritokratie-Prinzips mit grossen Fragezeichen versehen:
„Bildungserfolg
ist käuflich“ – Spuren der Erklärung. Winfried Kronig (2007)4) hat die Merkwürdigkeiten und Irritationen bei der schulischen Selektion
detailliert analysiert. „Der Zusammenhang zwischen den Selektionsempfehlungen und
der sozialen Herkunft ist unverantwortlich eng“ (S.215) fasst er zusammen. Und
Stefan Wolter, einer der Autoren der SKBF-Studie
meint, „dass ein Teil der Bildung käuflich ist“1). Zudem habe ich
anderswo aufgezeigt, dass das Ausmass von Selektionsentscheiden in die tiefsten
Leistungsniveaus auch von den politischen Stärkenverhältnissen auf lokaler
Ebene bestimmt wird (Heinz Gilomen 2014,)5). So können wir
also unsere Gleichung wie folgt anpassen:
Der
Bildungserfolg wird also wesentlich von der sozialen Herkunft bestimmt. Die
Modalitäten des Erfolges sowie die Stärke der sozialen Ungleichheit in der
Selektion hängen jedoch auch erheblich von den politischen Strukturen ab. Und
das ist eigentlich die gute Nachricht, denn solche Strukturen sind ja
veränderbar. Wir müssen es nur wollen.
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1) Sonntagszeitung
vom 9. November 2014
2) Michael Young (1958). The Rise of Meritocracy: An Essay on Education and Equality. London:
Thames and Hudson
3) Jürg
Jegge (1976). Dummheit ist
lernbar. Erfahrungen mit "Schulversagern"..., Gümligen: Zytglogge
4) Winfried
Kronig (2007). Die systematische
Zufälligkeit des Bildungserfolges. Bern – Stuttgart – Wien: Haupt
5) Heinz Gilomen (2014).
Selection and Marginalization in Education as a Political Process. In: Tania
Zittoun and Antonio Iannacone (Eds.), Activities
of Thinking in Social Spaces (pp 219-241). New York: Nova Publishers