Weiterbildung
ist essentiell in einer Gesellschaft, welche sich rasch wandelt und durch
Innovationen immer neue Wissens- und Kompetenzanforderungen stellt. Sie stellt
bekanntermassen einen zentralen Baustein für den Erhalt, die Erneuerung und den
Ausbau des sogenannten Humankapitals dar und ist eine Voraussetzung für die
persönliche Entfaltung und für die Teilhabe an Wirtschaft und Gesellschaft
jedes Einzelnen. Und so kann man nur begeistert applaudieren, dass der
Nationalrat in der letzten Wintersession als Erstrat das Bundesgesetz
über die Weiterbildung diskutierte. ENDLICH gibt es ein
Lebenszeichen, nachdem Politik und Verwaltung sich jahrzehntelang
gewissermassen totstellten und Weiterbildung höchstens als Nebengeleise der
Kulturförderung betrachteten. Endlich soll auch der Auftrag der Bundesverfassung
ernstgenommen werden, wo seit 2006 in Artikel 64a der
Bund verpflichtet wird, Grundsätze über die Weiterbildung festzulegen und die
Kompetenz erhält, Weiterbildung zu fördern. Und der Applaus betrifft auch die
Terminologie, welche mit dem Begriff der Weiterbildung scheinbar eine
gesellschaftliche Verantwortung signalisiert und nicht der Versuchung nachgibt,
die Problematik unter dem Titel „Lebenslanges Lernen“ abzuhandeln und dabei
eine sehr eingeschränkte Sichtweise von rein individueller Verantwortung
anzuwenden.
Die
Vorfreude, die Beratungen und das Gesetz etwas näher anzuschauen, ist also
gross. Doch die Begeisterung wird bei näherem Hinsehen schnell in enge Grenzen
verwiesen. Die Lustlosigkeit, mit der sich die Bundesbehörden diesem Thema widmen,
macht sich fast in jedem Artikel des Gesetzesentwurfs bemerkbar, und die schüchternen
Versuche, ihm im Parlament etwas mehr Kreativität und Leben einzuhauchen,
wurden rasch von der Ratsmehrheit abgeschmettert. Das bescheidene Lebenszeichen
hat offensichtlich noch ein paar Reanimationsschübe nötig.
Wer braucht Weiterbildung? – Betroffene
Bevölkerungsgruppen
Natürlich
brauchen Alle Weiterbildung! Alle sind von dem Wandel und den Innovationen in
Gesellschaft und Wirtschaft betroffen, müssen sich à jour halten, wollen neue
Herausforderungen annehmen und sich persönlich weiter entwickeln. Aber es gibt
Bevölkerungsgruppen, welche mehr Schwierigkeiten haben, den Zugang zu
Weiterbildung zu finden und deshalb auch etwas mehr an Förderung benötigen als
Andere. Beispielhaft können anhand der Daten des Bundesamtes
für Statistik etwa folgende Auffälligkeiten festgemacht
werden:
„Denn wer da hat, dem wird gegeben…“ lautet das
Prinzip im Matthäusevangelium (Matthäus 25, 29), das offensichtlich auch für
den Weiterbildungsbereich gilt. Wer es am nötigsten hat, nämlich Personen ohne
nachobligatorische Ausbildung, der hat am wenigsten Zugang zu Weiterbildung:
Nur rund 31% beteiligen sich, im Gegensatz zu Hochschulabsolventen, bei denen
fast 80% Weiterbildungskurse absolvieren. Auch wer nicht erwerbstätig ist,
findet markant weniger den Zugang zu Weiterbildung als die aktive Bevölkerung.
Und schliesslich sind es auch ältere Personen, so ab 55 Jahren, bei denen der
Besuch von Kursen und Lehrgängen geradezu dramatisch abnimmt.
Und so erwarten wir von dem neuen Weiterbildungsgesetz,
dass es gezielt solche Bevölkerungsgruppen fördert. Und wirklich hat der
Nationalrat beschlossen, bei Artikel 4 des Gesetzes auch die Verbesserung der
Arbeitsmarktfähigkeit gering Qualifizierter als Ziel zu verankern. Und
schliesslich formuliert das Gesetz in den Artikeln 12 bis 16 den Erwerb und
Erhalt von Grundkompetenzen im Sprachgebrauch, in der Alltagsmathematik sowie
in den Informations-und Kommunikationstechnologien als wichtige
Förderungs-Strategie. Für wenig Qualifizierte scheint es also einen Lichtblick
zu geben, allerdings beschränkt auf ihre Erwerbsfähigkeit und sofern sie Mängel
bei den Grundkompetenzen aufweisen. Keine Sonderförderung erhalten jedoch
andere Gruppen mit Nachholbedarf wie Nichterwerbstätige oder ältere Personen.
Welche
thematischen Felder sind wichtig?
Menschen übernehmen in der Gesellschaft eine Vielzahl von
Rollen und damit auch eine Vielzahl an Verantwortungen. Sicher einmal als
Berufstätige im Wirtschaftsleben, wo es selbstverständlich ist, dass sie sich
immer wieder mit neuen Erkenntnissen, Technologien, Abläufen, Märkten und
Produkten auseinandersetzen. Die Notwendigkeit beruflicher Weiterbildung ist
denn auch unbestritten und vielfach wird unter dem allgemeinen Begriff ja auch
einfach berufliche Weiterbildung verstanden. Aber Individuen übernehmen auch
andere gesellschaftlich wichtige Aufgaben: Als Familienverantwortliche, in
Vereinsleitungen, im politischen Leben, in den Nachbarschaftsbeziehungen, im
kulturellen Leben, etc. Und spätestens seit dem OECD-Projekt
DeSeCo (Definition and Selection of Competencies, siehe Rychen
und Salganik 2001 und 2003) wissen wir, dass dafür eine Vielzahl von
Schlüsselkompetenzen nötig sind, welche sich nicht auf berufliche Fähigkeiten
allein reduzieren lassen. Zwar sind instrumentale Kompetenzen (in DeSeCo Use Tools Interactively genannt), welche
am ehesten den beruflich notwendigen Fertigkeiten ähnlich sind, von zentraler
Bedeutung. Sie stellen jedoch nur eine von mehreren grundlegenden Kompetenzkategorien
dar, wie die folgende Grafik zeigt:
So stellt die Interaktion und die Zusammenarbeit
in kulturell heterogenen Gruppen ebenfalls ein wichtiges Kompetenzfeld dar, um
etwa mit Verschiedenartigkeit in modernen Gesellschaften umgehen zu können. Und
autonome Handlungsfähigkeit erlaubt es den Menschen, eine persönliche Identität
zu entwickeln und im Austausch mit der gesellschaftlichen Umwelt seine
Lebenspläne und persönlichen Projekte zu realisieren. Und das kritische
reflexive Denken, als Querschnittsdimension, bringt Individuen dazu, sich vom
schwarz-weiss Denken zu distanzieren, differenziert verschiedene Sichtweisen
einzunehmen und eigenständig fundierte Urteile zu fällen. Soweit also DeSeCo.
Das Spektrum an Kompetenzen, das als wichtig für die Teilhabe und die
Mitgestaltung gesellschaftlicher Prozesse und Ressourcen erachtet wird, geht
also weit über die rein beruflich anwendbaren Fähigkeit und Fertigkeiten hinaus.
Im Weiterbildungsgesetz finden sich allerdings kaum solche Überlegungen. Wo
etwas zu thematischen Feldern gesagt wird, betrifft es sehr elementare Basiskompetenzen
wie Lesen und Mathematik sowie den reinen Bezug zur Arbeitsmarktfähigkeit.
Wie
fördern? – Strategien und Massnahmen
Ganz
zuoberst figurieren zeitliche Hemmnisse, gefolgt von finanziellen Gründen. Die
letztgenannten spielen übrigens bei Personen mit tieferen Löhnen und tieferem
Bildungsniveau noch eine etwas grössere Rolle. Diese Hindernisse sind seit rund
30 Jahren bekannt und figurieren bei allen Untersuchungen an erster Stelle.
Zu
erwarten ist deshalb, dass ein Weiterbildungsgesetz, das generell die
Beteiligung stärken will, auf Grund dieser Erkenntnisse auch entsprechende
Massnahmen – also Bildungsurlaub und finanzielle Unterstützung - in den
Vordergrund stellt. Den Bildungsurlaub im Obligationenrecht zu verankern, hat
der Nationalrat jedoch
abgelehnt, ebenso wie die vorbereitende Kommission
des Ständerates. Und die Finanzhilfen sind, wenn überhaupt,
im Gesetz nur sehr zurückhaltend formuliert. Der Bundesrat selbst rechnet in seiner Botschaft (Übersicht)
vor, dass der Bund bereits heute im Weiterbildungsbereich jährlich rund 600
Millionen Franken ausgibt. Das Weiterbildungsgesetz selbst dürfte nur zu
Mehrausgaben von zwei Millionen Franken führen. Die finanzielle Dynamik des
Gesetzes ist somit denkbar schwach.
So what? – Eine Art Fazit
Natürlich
ist es grossartig, dass demnächst ein Gesetz zur Weiterbildung das Licht der
Welt erblicken wird. Ganz abgesehen von den konkreten Inhalten ist dies ein starkes
symbolisches Zeichen für ein mögliches Engagement des Bundes in diesem Bereich.
Die Qualitätssicherung bei den Anbietern, die Verantwortung der Arbeitgeber,
die Weiterbildung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu begünstigen (in der
ständerätlichen Kommissions-Version) sowie die nationale Strategie (ebenfalls in der Version der SR-Kommission) im Bereich der Grundkompetenzen
sind weitere Punkte, die positiv zu unterstreichen sind.
Trotzdem,
wie so oft im Bildungsbereich sind
Mechanismen und Strukturen nicht wirklich verständlich, wenn wir vom Ziel der
optimalen Befähigung der Menschen, in Wirtschaft und Gesellschaft mitzuwirken,
ausgehen. Wieso werden dann jene, bei denen wir wissen, dass sie Weiterbildung
besonders nötig haben (und zwar nicht nur bei den fehlenden Grundkompetenzen)
nicht generell viel gezielter angesprochen? Wieso werden zivile und
gesellschaftliche Kompetenzen nicht tatkräftig und konsequent weiter
entwickelt, wenn wir doch wissen, wie wichtig sie für die verschiedenen
Rollen sind, welche der Einzelne zu erfüllen hat? Und wieso werden die bekannten
Hindernisse zeitlicher und finanzieller Natur nicht systematisch ausgeräumt? Da hilft ja die Verankerung der hauptsächlich
individuellen Verantwortung im Gesetz auch nicht weiter.
Nun
wissen wir ja, dass das Bildungswesen neben der Funktion der Befähigung noch andere
Aufgaben zu erfüllen hat, insbesondere die Zuordnung von Individuen zu sozialen
Positionen (Bourdieu & Passeron 1964, 1970; Duru-Bellat 2002; Fend 2006). Mit
anderen Worten werden über die Zertifizierungsfunktion im Bildungswesen auch
immer wieder die Festigung und die Reproduktion von Ungleichheit und Machtverhältnissen
sichergestellt. Und dies scheint nun auch im Weiterbildungsbereich der Fall zu
sein.
Per
Zufall ist mir in diesen Tagen ein Buch über Weiterbildung und soziale Gerechtigkeit
von Sue Jackson (2011), Professorin für Lifelong Learning an der Birkbeck
University in London, in die Hände gefallen. Darin schreibt
sie zur Weiterbildungs-Problematik: „…that
access to learning must be understood in relation to deeply embedded relations
of inequality that operate at multiple levels. … Although there is a dominant
policy language about widening participation, justified in relation to social
equity and justice, it is driven by the changing needs for labour in a
globalised knowledge economy…” (S.3).
Das oben erwähnte Matthäus-Zitat ist somit nicht nur eine illustrative Bibelstelle,
sondern wird zu einer soziologischen Perspektive, welche es erlaubt, vorher unverständliche
Mechanismen und Strukturen zu entziffern. Es wird interessant sein, die
Weiterentwicklung des Gesetzes und vor allem die konkrete
Umsetzung zu verfolgen.
__________________________________________________________
• Bourdieu Pierre &
Passeron Jean-Claude (1964). Les héritiers. Les étudiants et la culture.
Paris:
Éditions de Minuit
• Bourdieu Pierre,
& Passeron Jean-Claude (1970). La Reproduction. Éléments pour une
théorie du système d’enseignement. Paris: Éditions de Minuit
• BFS - Bundesamt für
Statistik (2013).
Weiterbildung in der Schweiz 2011. Mikro- zensus
Aus- und Weiterbildung 2011. Neuchâtel: BFS
• BFS – Bundesamt für Statistik
(2014). Bildungssystem
Schweiz – Indikatoren. Verläufe
und Übergänge: Verhinderung an der Aus- und Weiterbildungspartizipation.
• Duru-Bellat
Marie (2002). Les inégalités sociales à l’école. Genèse et mythes. Paris:
Presse Universitaire de France
• Fend Helmut (2006). Neue Theorie der
Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen. Wiesbaden: VS Verl. für
Sozialwissenschaften
• Jackson Sue (Ed.)
(2011). Lifelong Learning and Social Justice: Communities,
Work and Identities in a Globalised World. Leicester: niace – National Institute
of Adult Continuing Education.
• Rychen Dominique S.
and Salganik Laura H. (Eds.). (2003), Key
Competencies for a Successful Life and a
Well-Functioning Society. Göttingen : Hogrefe & Huber Publishers
• Rychen Dominique S.
and Salganik Laura H. (Eds.). (2001), Defining and Selecting Key Competencies. Göttingen: Hogrefe & Huber Publishers
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