23.12.2013

Berufsbildung - We are the Champions! ???

Die Schweiz hat ein sehr gutes, sogenanntes duales Berufsbildungssystem, bei dem nur der geringere Teil in der Schule stattfindet, das Wesentliche hingegen in den Betrieben als praxisbezogene Ausbildung erfolgt. Zwar ist die Schweiz nicht das einzige Land mit diesem Modell, bei uns ist es aber doch besonders ausgeprägt.

Die duale  Berufsbildung ist nicht nur weit verbreitet, sie geniesst auch hohes Ansehen. So wird man im Umfeld des Eidg. Departementes für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) nicht müde, dieses System hochzuloben, und Bundesrat Schneider-Ammann meint gar, das Modell sei nicht nur ein Erfolg, sondern sogar eine der Grundlagen unseres wirtschaftlichen Wohlstandes (April 2013). Die praxisnahe Ausbildung sei eine fundamentale Stärke der Schweiz, was auch zunehmend international erkannt werde.

Dies ist gemäss BR Schneider-Ammann auch kein Wunder, weil die duale Ausbildung ganz besonders für die tiefe Jugendarbeitslosigkeit in unserem Land verantwortlich sei (BR Schneider Ammann April 2013). Bereits früher hatte der Chef des WBF auf eine Arbeitslosenquote der Jugendlichen von 2,9% hingewiesen (August 2012) und junge Menschen in anderen Ländern, wie etwa Italien oder Frankreich, bedauert, die ohne Arbeit auf der Strasse stehen (Oktober 2012). Als Ursache der dortigen hohen Jugendarbeitslosigkeit macht BR Schneider-Ammann eine, wie er es nennt, Über-Akademisierung fest, die sich etwa in einer hohen Maturandenquote äussert (Oktober 2012).

Nun hat das schweizerische, praxis- und wirtschaftsnahe, Berufsbildungssystem sicher viele Vorteile. Aber ist es auch gleich noch ein wirksames Instrument zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit? Grundsätzlich entsteht ja Arbeitslosigkeit vor allem dadurch, dass es zu wenig Arbeitsplätze für arbeitswillige Personen gibt. Und als grobe Faustregel gilt, dass es bei Hochkonjunktur, wenn die Wirtschaft mehr verkaufen und produktiveren kann, mehr Arbeitsplätze, und damit eine kleinere Arbeitslosigkeit, gibt. Und bei einer Konjunkturflaute gilt das Gegenteil. Und nun sind also nicht mehr der Lauf der Wirtschaft, sondern die Modalitäten der beruflichen Grundausbildung der wesentliche Faktor für die Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt? Seltsam!

Jedenfalls hat uns kürzlich eine Medienmitteilung des Bundesamtes für Statistik aufgeschreckt, welche von einer Jugendarbeitslosigkeit im dritten Quartal 2013 von 10.4% spricht. Also doch wesentlich mehr als die 2,9 % von BR Schneider-Ammann. Woher kommt diese Differenz? Jedenfalls hat sie sicher seit August 2012 nicht so massiv zugenommen.

Nun existieren eben in der Schweiz zwei unterschiedliche Definitionen von Arbeitslosigkeit (BFS 2012; siehe auch KOF). Zum einen weist das Seco jeweils eine sogenannte registrierte Arbeitslosigkeit aus. Dabei umfassen die registrierten Arbeitslosen alle bei einem regionalen Arbeitsvermittlungszentrum registrierten Personen, die keine Stelle haben und sofort vermittelbar sind, unabhängig davon, ob sie eine Arbeitslosenentschädigung beziehen oder nicht. Da jedoch die Meldung bei einem solchen Zentrum von verschiedenen Faktoren abhängt, widerspiegelt die Quote der registrierten Arbeitslosen die tatsächliche Arbeitslosigkeit nur ungenügend. Zudem sind auch die Kriterien der Registrierung in den einzelnen Ländern unterschiedlich, und so berechnete Arbeitslosenquoten dürfen deshalb nicht miteinander verglichen werden. 

Aus diesen Gründen hat die Internationale Arbeitsorganisation ILO eine Definition von Arbeitslosigkeit entwickelt, welche diese Klippen umgeht und heute international unter anderem von der EU, der OECD und dem internationalen Arbeitsamt angewendet wird. Als Erwerbslose gemäss ILO gelten dabei Personen im Alter von 15-74 Jahren, die  

  •        in der Referenzwoche nicht erwerbstätig waren,
  •          und die in den vier vorangegangenen Wochen aktiv eine Arbeit gesucht haben,
  •          und die für die Aufnahme einer Tätigkeit verfügbar wären.

Dabei unterschätzt das Seco die Arbeitslosigkeit vor allem bei den jungen Erwerbspersonen, welch oft lange auf eine Entschädigung warten müssen und sich deshalb nicht registrieren, sowie bei den älteren, oft ausgesteuerten Arbeitslosen.

So ist es zu erklären, dass das BFS eine ILO Arbeitslosenquote von 4.7% im dritten Quartal 2013 ausweist, des Seco jedoch nur eine solche von 3.0% für den September 2013. Und bei der Jugendarbeitslosigkeit ergibt sich ein vergleichbare ILO-Quote von eben 10.4%; das Seco weist nur eine  solche von 3.6% aus.

BR Schneider Ammann arbeitet mit den Zahlen des Secos, welche wie gesagt die Jugendarbeitslosigkeit massiv unterschätzen und nicht mit anderen Ländern verglichen werden dürfen. Aber natürlich, sie sehen für die Lobpreisung der dualen Berufsbildung besser aus. Allerdings weist auch das BFS auf die wesentlich höhere Jugendarbeitslosigkeit in der EU hin, die durchschnittlich über 20% beträgt. Eventuell ist doch etwas daran an der heilsamen Wirkung des schweizerischen Modells? Dieser Frage wollen wir nun nachgehen.

Wir haben also zwei Hypothesen, die wir untersuchen wollen:
1.    Gemäss BR Schneider-Ammann bewirkt das Modell der dualen Bildung eine geringe Jugendarbeitslosigkeit. Je höher also der Anteil der Jugendlichen, welche sich in einer dualen Berufsausbildung befinden, umso tiefer ist - gemäss dieser These - die Jugendarbeitslosigkeit.
2. Gemäss unserer Hypothese hingegen ist die Jugendarbeitslosigkeit wesentlich konjunkturell bedingt. Das heisst, je höher die allgemeine Arbeitslosigkeit, umso höher ist auch die Jugendarbeitslosigkeit. 
Und diesen zwei Hypothesen wollen wir nun nachgehen.  Grafik 1 zeigt das Streudiagramm zur Hypothese 1, das wir auf Grund der Indikatoren der OECD zum Bildungswesen (OECD 2013a) sowie zum Arbeitsmarkt (OECD 2013b) erstellen.

Grafik1: Jugendarbeitslosigkeit und das Modell der dualen Bildung
       ©H.Gilomen 2013 /  Daten: OECD (2013a) und OECD (2013b)                                                                                                                                                                                                         
Wie wir hier sehen, ist der Zusammenhang zwischen Jugendarbeitslosigkeit und dem Modell der dualen Bildung eher schwach. So haben die Länder, welche das Modell der dualen Bildung (praktisch) nicht kennen und deshalb auch kaum Anteile von Jugendlichen in dieser Ausbildungsform ausweisen, sehr unterschiedliche Quoten von Jugendarbeitslosigkeit (auf der linken Seite der Grafik). Japan und Korea etwa befinden sich mit unter 10% etwa auf demselben Niveau wie die Schweiz, und Israel, Kanada und Neuseeland sind kaum darüber. Aber es gibt auch Irland, Italien und Portugal und natürlich die viel zitierten Griechenland und Spanien mit ausserordentlich hoher Jugendarbeitslosigkeit, welche in der Tat keine duale Ausbildung kennen. Aber bereits bei dieser Gruppe von Ländern, welche ihren Jugendlichen andere Ausbildungsformen als die duale Berufsausbildung anbieten, ist kein systematischer Zusammenhang zur dualen Bildung festzustellen.
Und ähnliches gilt auch aus dem anderen Blickwinkel, wenn wir jene Länder anschauen, welche nennenswerte Anteile an dualer Ausbildung ausweisen. Zwar gibt es hier mit der Schweiz, Deutschland und  Österreich drei Länder mit tiefer Jugendarbeitslosigkeit. Aber eben auch Dänemark, die Slowakei und Tschechien, die sich eher im Mittelfeld bewegen oder sogar recht hohe Quoten ausweisen.
Wir haben auch noch eine Regressionsgerade gerechnet, auch wenn die formalen Voraussetzungen mit der Häufung von Nullwerten bei der dualen Ausbildung nicht ideal sind. Immerhin ist klar ersichtlich, dass es zwar eine leicht negative Tendenz gibt, und die Jugendarbeitslosigkeit mit der Zunahme an dualer Bildung sinkt. Die einzelnen Punkte sind jedoch recht weit von der Geraden entfernt, was auf einen eher schwachen Zusammenhang hindeutet. Der sogenannte Determinationskoeffizient R2 zeigt uns denn  auch mit einem Wert von 0.12, dass nur etwa 12% der Variation in der Jugendarbeitslosigkeit durch die unterschiedlichen Ausbildungsformen erklärt werden können. Die restlichen 88% sind auf andere Faktoren zurückzuführen.
Bei der Hypothese 2 zeigt Grafik 2 unten ein anderes Bild. Hier ist der systematische Zusammenhang sehr klar erkennbar: Bei höherer genereller Arbeitslosigkeit finden wir auch höhere Jugendarbeitslosigkeit und vice versa. So weisen Spanien und  Griechenland mit rund 25% eine sehr hohe generelle Arbeitslosigkeit aus, gleichzeitig aber auch die höchste Jugendarbeitslosigkeit in der OECD mit rund 55%. Am anderen Pol befinden sich Länder wie die Schweiz und Norwegen, aber auch Südkorea oder Japan, die sowohl eine relativ geringe allgemeine Arbeitslosigkeit als auch eine relativ kleine Jugendarbeitslosigkeit haben. Die einzelnen Länder befinden sich auch nahe an der errechneten Regressionsgeraden, was auf eine hohe Aussagekraft dieses Modells hindeutet. Die Regressionsgleichung mit einem Koeffizienten von 2.24 weist darauf hin, dass die Jugendarbeitslosigkeit in der Regel etwa zweimal so hoch ist wie die allgemeine Arbeitslosigkeit.   Und der Determinationskoeffizient R2 zeigt uns, dass in diesem Modell rund 92% der Variation in der Jugendarbeitslosigkeit durch die generelle Arbeitslosigkeit erklärt werden kann. Das ist in den Sozialwissenschaften ein immens hoher Anteil. 

Grafik2: Jugendarbeitslosigkeit und generelle Arbeitslosigkeit
        ©H.Gilomen 2013 /  Daten: OECD (2013a)                                                                                                                                                                                                                      

BR Schneider-Ammann ist nicht der Einzige, der einen engen Zusammenhang zwischen der Jugendarbeitslosigkeit und dem Modell der dualen Bildung behauptet. Diese These ist inzwischen so etwas wie ein Allgemeingut in der politischen Diskussion der Schweiz geworden. Die obenstehenden Analysen zeigen, dass diese These jedoch kaum etwas mit der Wirklichkeit zu tun hat: Jugendarbeitslosigkeit ist ganz klar ein konjunkturelles Problem und nicht eine Frage der Modalitäten der beruflichen Ausbildung. Wer sie bekämpfen möchte, muss deshalb in erster Linie Arbeitsplätze schaffen, welchem Modell der beruflichen Ausbildung auch immer ein Land Priorität einräumt.

Die berufliche Ausbildung im dualen Modell der Schweiz hat sicherlich seine Stärken. Aber wir brauchen sie ja deswegen nicht gleich heiligzusprechen und ihr Wunder zu unterstellen, welche sie logisch und empirisch nicht in die Tat umsetzen kann. Sonst verlieren wir die Fähigkeit, auch eventuelle Mängel und Schwächen rechtzeitig zu bemerken und die notwendigen Massnahmen zur ständigen Optimierung der nachobligatorischen Ausbildung zu ergreifen. 

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BFS - Bundesamt für Statistik (2012). Arbeit und Erwerb. Definitionen. Neuchâtel: BFS
OECD (2013a). Education at a Glance 2013. Paris: OECD

22.03.2013

Signifikanz statt Relevanz



Signifikanz ist ein Begriff aus der Statistik und bedeutet ,dass ein Parameter, der aus einer Stichprobe gerechnet wurde, also beispielsweise eine Differenz oder eine Korrelation, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch in der Grundpopulation existiert, d.h. nicht zufälligerweise durch das Ziehen der Stichprobe entstand. Je grösser die Stichprobe, desto kleiner ist die Schwankungsbreite der Zufälligkeit und umso eher wird somit ein Parameter als signifikant beurteilt. Bei einer grossen Stichprobe werden deshalb schon kleine Differenzen oder tiefe Korrelationskoeffizienten als im statistischen Sinne signifikant bezeichnet.

Anders als im Sprachgebrauch des Alltages, heisst jedoch statistische Signifikanz noch lange nicht "wichtig" oder "bedeutsam" in einem gesellschaftlichen Sinne. Nicht jeder Unterschied, der zwar statistisch signifikant ist, ist deshalb "relevant", das heisst wichtig als soziale Problematik. Es ist deshalb immer neben der automatischen Berechnung von Signifikanz-Niveaus auch auszuloten, auf Grund etwa theoretischer Überlegungen und Kenntnisse, ob ein Sachverhalt im Sinne der Fragestellung als bedeutsam beurteilt werden darf (siehe etwa Bressoux 2008).

Diese Diskussion kommt mir in den Sinn  bei der Lektüre einer Studie der SKBF - Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung - , welche  unter dem Schlagwort Overeducation - d. h. Überqualifizierung  (gibt es das??) - die Passung zwischen universitärer Ausbildung und Arbeitsmarkt untersucht. Dabei wird festgestellt, dass mehr als 90% der erwerbstätigen Universitäts-Absolventen fünf  Jahre nach Studienabschluss eine Stelle haben, wo sie ihre erworbenen Fähigkeiten einsetzen können und dabei auch noch gut verdienen. Die Studie beruht auf der Selbstdeklaration von Diplomierten der universitären Hochschulen. Grafisch kann man das Hauptergebnis  wie folgt illustrieren:

Situation der erwerbstätigen Universitätsabsolventen 5 Jahre nach Abschluss

Quelle der Angaben: Diem & Wolter 2013


Der Anteil mit einer inadäquaten Stelle ist somit sehr klein. Er wäre noch kleiner, wenn die Absolventen der Medizin und der Rechtswissenschaften - also der spezifisch beruflich ausgerichteten Bereiche - auch eingeschlossen wären und / oder  das Kriterium der Inadäquanz weniger streng  definiert würde.

Da kann man ja den schweizerischen Universitäten nur gratulieren. Sie bilden offensichtlich sehr wirtschaftsnahe aus und vermitteln überwiegend jene Kompetenzen, welche im Arbeitsmarkt auch gesucht werden. Zudem ist Inadäquanz zum grossen Teil eine vorübergehende Erscheinung, fanden doch drei Viertel der Personen, die ein Jahr nach Studienabschluss noch nicht auf einer adäquaten Stelle beschäftigt waren, im Laufe der folgenden vier Jahre eine Beschäftigung, welche ihrer Ausbildung entspricht.  Damit bestätigen die Resultate jene Indikatoren, die für Hochschulabsolventen kleine Arbeitslosenquoten nachweisen und zeigen, dass sich ein Studium nach wie vor lohnt. Auch der Vergleich mit der gesamten Erwerbsbevölkerung oder mit ausländischen Verhältnissen zeigt ein positives Bild für die universitären Absolventen.

Doch von solchen Überlegungen findet sich nur wenig in den Schlussfolgerungen der Studie. Im Gegenteil. Zum Hauptproblem gemacht wird hier der marginale Anteil derjenigen, die nicht adäquat beschäftigt sind,. Mit komplexen multivariaten Berechnungen werden dabei auch Einflussfaktoren bestimmt, wobei natürlich bei einer Stichprobe von mehreren Tausend Befragter viele Resultate als statistisch signifikant beurteilt werden. Und unter der wenig plausiblen Annahme  konstanter Arbeitsverhältnisse werden Einkommen für die gesamte Lebenszeit errechnet und darauf hingewiesen, dass sich für diesen verschwindend kleinen Anteil an inadäquat Beschäftigten ein Studium finanziell nicht lohnt und auch für den Staat ein Verlustgeschäft darstellt. 

Hier wird wohl Signifikanz mit Relevanz verwechselt und eine Randerscheinung zu einem grossen Problem emporstilisiert. Zudem ist auch fragwürdig, wie der Nutzen guter Bildung sowohl für Individuen als auch für die Gesellschaft („den Staat") auf eine rein ökonomische, monetäre Dimension reduziert wird. Menschen sind ja in verschiedenen Rollen tätig, nicht nur als wirtschaftliche Akteure im bezahlten Beruf, sondern beispielsweise auch in der Familie, in der Politik, in der Kultur, in den persönlichen Beziehungen und im weiten Feld der unbezahlten und der Freiwilligenarbeit. Und solche Funktionen sind auch von grossem gesellschaftlichem Wert. Es wäre wohl wünschenswert, wenn die Bildungsökonomie ihren Blickwinkel entsprechend erweitern würde. 

                                                                                                                                
Bressoux, P. (2008). Modélisation statistique appliquée aux sciences sociales. Bruxelles: De Boeck.
Diem, A. & Wolter, S. C. (2013). Nicht ausbildungsadäquate Beschäftigung bei Universitätsabsolventen und -absolventinnen: Determinanten und Konsequenzen: Eine Analyse auf Basis der Schweizer Hochschulabsolventenbefragungen (SKBF Staff Paper 9 No. 9). Aarau: SKBF

04.03.2013

Verbrechergene und Bildungstalente



Früher meinte man, Kriminalität sei erblich bedingt und könne anhand der äusserlichen Erscheinungen festgestellt werden. Eine solche biologistische Sichtweise findet sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie beruht auf der soziobiologischen Grundannahme, dass Verhaltensunterschiede vor allem genetisch bedingt seien und bildete die Grundlage für allerlei Gräueltaten - meist rassistisch begründet - im 20. Jahrhundert. Ein wichtiger Vertreter dieser Richtung war etwa Cesare Lombroso, ein italienischer Arzt und Professor der Gerichtsmedizin, mit seinen Schriften zu Verbrechern und ihren körperlichen Veranlagungen. Auch Samuel R. Wells, der ein umfangreiches Werk zu Physiognomie und Charaktermerkmalen geschrieben hat, vertritt solche Ansätze.
Wells (1875, S.126) ; Horn (2003, S 22)
  

Bis man sich bewusst wurde, dass Kriminalität eine gesellschaftliche Konstruktion ist.  Kriminell ist, was von der Gesellschaft - dem Gesetzgeber - als kriminell  bezeichnet wird. Z.B. sind 72 Mio Abgangsentschädigung für einen Wirtschaftsführer nicht kriminell. Hingegen ist Ladendiebstahl ein Gesetzesbruch. Und langsam setz sich auch die Erkenntnis durch, dass deviante Verhaltensweisen nicht angeboren und ererbt, sondern ebenfalls - mit einigen wenigen Ausnahmen - sozial gemacht sind: Menschen wachsen in unterschiedliche soziale und kulturelle Welten hinein und leben unter unterschiedlichsten Lebensbedingungen, welche auch zu unterschiedlichen Verhaltensmustern führen.


In der Bildung sind wir noch nicht so weit. Zwar meint Duru-Bellat (2002), kein seriöser Wissenschaftler würde heute noch die Vererbung als entscheidenden Prozess der intellektuellen Entwicklung betrachten, im Alltag der Bildungsdiskussion jedoch wird nach wie vor in diesen Kategorien gedacht und gehandelt. Da wird von „Begabten“ und „wenig Begabten“ gesprochen, als ob schulische Eignungen eine genetisch bedingte, angeborene  Eigenschaft wäre. Auch das sogenannte meritokratische Prinzip mit der Formel Schulerfolg = Talent + Leistung beruht im Grunde genommen auf solchen Annahmen. Dabei werden „Begabte“ speziell gefördert und haben eine strahlende Zukunft vor sich. Und so wie Kriminelle in Anstalten abgeschoben werden, um sie zu "re-sozialisieren", werden in der Schule „weniger Begabte“ in Sonderklassen und Sonderschulen platziert, um ihre intellektuellen Defizite zu beheben. Stigmatisiert werden beide und vielfach sind es, in beiden Fällen, diese Korrekturmassnahmen und ihre stigmatisierende Wirkung, welche für die Integrationsprobleme in die Gesellschaft verantwortlich sind. Also gerade das Gegenteil von dem, was vordergründig beabsichtigt wird.

Auch in der Bildung wird vergessen, dass die schulischen Standards nicht vom Himmel fallen, sondern gesellschaftliche Konstrukte darstellen. Dass Sprache, Mathematik und Naturwissenschaften wichtiger sind als Geographie, Turnen  und Musik, ist nicht gottgegeben, sondern von uns Menschen so festgesetzt. Und dass einige Kinder mit diesen Standards besser und andere weniger gut zurechtkommen, ist auch nicht genetisch bedingt oder von einer höheren Macht vermittelt, sondern vielfach die Folge davon, dass diese Standards eben den Sozialisationsbedingungen einzelner Bevölkerungsgruppen besser oder weniger gut entsprechen.

Die schlechten SchülerInnen sollten sich also merken (und die guten ebenso), dass ihre schwache / starke Position in der Schule nicht Schicksal ist, nicht vom Indianer im Baum oder anderen höheren Mächten so zugeteilt sind, sondern gesellschaftlich gewollt und somit korrigierbar ist. Sowohl auf der individuellen Ebene als auch strukturell, durch andere Leistungsdefinitionen, durch andere strukturelle Ausgestaltungen und durch andere Prozesse der Förderung und der Selektion.
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Duru-Bellat, Marie (2002), Les inégalités sociales à l'école. Genèse et mythes. Paris: Presse Universitaire de France
Horn,David G.(2003), The Criminal Body: Lombroso and the Anatomy of Deviance. New York: Routledge. 
Lombroso, Cesare (1894), Der Verbrecher (homo delinquens) in anthropologischer, ärztlicher und jusristischer Beziehung . Hamburg: Verlagsanstalt und Druckerei AG
Wells, Samuel R.(1875), The New Physiognomy or Signs of Character as Manifested through Temperament  and External Forms and Especially in “The Human Face Divine”.  New York: S.R. Wells Publisher