17.12.2014

Nachhilfe fürs Gymi – Na und?

Heinz Gilomen
Zahlreiche Schülerinnen und Schüler der Oberstufe brauchen Nachhilfe-Unterricht, um ins Gymnasium zu kommen. Das beweist nichts anderes, als dass die akademische Eignung „gemacht“ werden kann und wenig mit Begabung zu tun hat. Die Frage ist nur, warum die Schule diesen bescheidenen Zusatzaufwand nicht selbst betreibt.
Kürzlich gab es etwas Aufregung in den Schweizer Medien: Eine Studie der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) hat ergeben, dass rund jede(r) dritte Schüler(in) im 8. und 9. Schuljahr Nachhilfe benötigt. Innerhalb von drei Jahren ist der Prozentsatz von 30 auf 34% gestiegen, was laut dem Direktor der SKBF „enorm“ ist1). (Na ja…, siehe auch Signifikanz und Relevanz). Die Jugendlichen gehen vor allem in den bezahlten Nachhilfeunterricht, um bessere Chancen zu haben, ins Gymnasium zu kommen. Dadurch werden Kinder von Eltern mit höherem Einkommen bevorteilt.

Meritokratie entzaubert - Teil 1: Das Akademiker-Gen. Nun glauben wir ja alle an das Leistungsprinzip: Erfolg hat, wer etwas leistet. Dabei ist nicht nur der Aufwand wichtig, sondern auch die sogenannte Begabung. Michael Young hat das 1958,2) als Meritokratie formuliert (Man kriegt, was man verdient): 


Nun zeigen allerdings die Resultate der SKBF-Studie, dass die Eignung für das Gymnasium und die universitäre Laufbahn produziert werden kann. Begabung ist nicht so wichtig. Ein paar Stunden Zusatzaufwand, und schon wird aus einem mittelmässigen Schüler offensichtlich ein Maturitätskandidat. Bereits Jürg Jegge (1994)3) meinte ja vor rund 40 Jahren „Dummheit ist lernbar“; gescheit sein offensichtlich auch. 
Damit können wir beim Prinzip der Meritokratie, das den Schulerfolg als Funktion von Talent und Fleiss sieht, den ersten Teil schon mal streichen:


Es wäre ja auch absurd, zu glauben, dass bei der Geburt der liebe Gott (oder sonst jemand) bei ca. 20% der Kinder willkürlich ein Akademiker-Gen einpflanzt, das dann im Laufe der Bildungskarriere nur noch aufgedeckt werden müsste. Und wenn wir uns die Verteilung der kantonalen Maturitätsquoten unter diesem Blickwinkel anschauen, würde die These ja noch unglaubwürdiger. 

     Heinz Gilomen 2014  / Daten: BFS

Die armen St. Galler! Die werden bei der Verteilung der Akademiker-Gene ja richtig benachteiligt – und dies übrigens seit Jahren! Dafür habe es die Tessiner, Basler und Genfer gut: Sie kriegen fast 2.5 Mal mehr universitäre Anwärter als die Ostschweizer. Aber Spass beiseite – bei der Begabungs-These müssen wir offensichtlich grosse Fragezeichen setzen (siehe dazu auch Verbrechergene und Bildungstalente).


Auch die SKBF Studie spricht davon, dass die Kantone unterschiedliche Maturitätsquoten aufweisen, „die nicht durch Unterschiede in den Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu erklären sind“ (S.19). Und in derselben Ausgabe der Sonntagszeitung1) wird auf eine Untersuchung von Elsbeth Stern der ETHZ verwiesen, gemäss der rund ein Drittel der Gymnasiasten einen zu geringen Intelligenzquotienten aufweist. Das zeigt ja auch die Fragwürdigkeit des IQs als Indikator des Bildungserfolges. Offensichtlich hat die sogenannte Begabung nur einen untergeordneten Einfluss, und es sind andere Faktoren am Werk. Wir können also getrost auf den Talent-Teil in der Meritokratie-Formel verzichten.


Meritokratie entzaubert - Teil 2: Das Fleiss-Gen. Dafür scheint der zweite Teil der Gleichung aufzugehen, wird doch der Nachhilfe-Unterricht in den Kontext der Zugangschancen zum Gymnasium gestellt: Zusätzlicher Aufwand, also Nachhilfe, wird belohnt und die Chancen auf einen Platz im Gymnasium steigen. Also ohne Fleiss kein Preis, bzw. mit viel Fleiss winkt der Gymi-Preis.

Aber so einfach ist die Sache auch hier nicht. Die Rest-Gleichung Talent + Fleiss = Erfolg würde eigentlich heissen, dass mit gleichem Aufwand der gleiche Erfolg eintreten sollte.
Das würde ja aber in Bezug auf die oben stehende Grafik auch heissen, dass Tessiner, Basler und Genfer mit ihrer hohen Maturaquote fleissiger sind, und etwa St. Galler, Thurgauer oder Solothurner wesentlich fauler. Die Kinder der ersten drei Kantone würden dann gewissermassen vermehrt mit einem Fleiss-Gen bedacht, das in den letzteren Kantonen nur selten zum Zuge kommt. Auch das ist wohl keine überzeugende Erklärung.
Zudem müssten ja jene Kantone, in denen mehr Nachhilfe konsumiert wird, also fleissiger Aufwand betrieben wird, auch höhere Maturitätsquoten haben. Und umgekehrt. Allerdings zeigt die SKBF-Studie, dass im Gegenteil die Nachfrage nach Nachhilfe steigt, je niedriger die Maturitätsquote in einem Kanton liegt; dies vor allem auch von guten Schülerinnen und Schülern.


Es gehe also nicht darum, mit einem Zusatzaufwand seine Kompetenzen auf ein imaginäres allgemeingültiges gymnasiales Niveau zu bringen, sondern je nach kantonalen Rahmenbedingungen im Wettbewerb um gymnasiale Plätze einfach etwas besser dazustehen als die anderen (S. 19). Meritokratie und Leistungsprinzip nur innerhalb des jeweiligen Kantons also. 

Kantone sind jedoch keine homogenen Gebilde. Gemäss einer Studie des Kantons Bern sind die Differenzen zwischen den einzelnen Gemeinden enorm, wenn es um die Zuteilung auf verschiedene Niveaus der Sekundarstufe geht. Und da fallen ja folgenschwere Entscheide in Bezug auf die weitere Bildungskarriere. So werden beispielsweise in der einen Gemeinde nur 3% der Schüler und Schülerinnen in die Stufen mit dem tiefsten Niveau eingeteilt, am anderen Extrem sind es 63%. Dies mit unterschiedlichen Begabungen oder mit unterschiedlichem Fleiss erklären zu wollen, wäre wohl abenteuerlich. Damit können wir ja nun auch den zweiten Teil des Meritokratie-Prinzips mit grossen Fragezeichen versehen:


„Bildungserfolg ist käuflich“ – Spuren der Erklärung. Winfried Kronig (2007)4) hat die Merkwürdigkeiten und Irritationen bei der schulischen Selektion detailliert analysiert. „Der Zusammenhang zwischen den Selektionsempfehlungen und der sozialen Herkunft ist unverantwortlich eng“ (S.215) fasst er zusammen. Und Stefan Wolter, einer der Autoren der SKBF-Studie meint, „dass ein Teil der Bildung käuflich ist“1). Zudem habe ich anderswo aufgezeigt, dass das Ausmass von Selektionsentscheiden in die tiefsten Leistungsniveaus auch von den politischen Stärkenverhältnissen auf lokaler Ebene bestimmt wird (Heinz Gilomen 2014,)5). So können wir also unsere Gleichung wie folgt anpassen:


Der Bildungserfolg wird also wesentlich von der sozialen Herkunft bestimmt. Die Modalitäten des Erfolges sowie die Stärke der sozialen Ungleichheit in der Selektion hängen jedoch auch erheblich von den politischen Strukturen ab. Und das ist eigentlich die gute Nachricht, denn solche Strukturen sind ja veränderbar. Wir müssen es nur wollen.
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1)     Sonntagszeitung vom 9. November 2014
2)     Michael Young (1958). The Rise of Meritocracy:  An Essay on Education and Equality. London: Thames and Hudson
3)     Jürg Jegge (1976). Dummheit ist lernbar. Erfahrungen mit "Schulversagern"..., Gümligen: Zytglogge
4)     Winfried Kronig (2007). Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolges. Bern – Stuttgart – Wien: Haupt
5)   Heinz Gilomen (2014). Selection and Marginalization in Education as a Political Process. In: Tania Zittoun and Antonio Iannacone (Eds.), Activities of Thinking in Social Spaces (pp 219-241). New York: Nova Publishers


02.09.2014

Bildungsgraben

Heinz Gilomen
Nach der Abstimmung vom 9. Februar wurde viel über die politischen Gräben der Schweiz diskutiert. Hier wird ein neuer „Graben“ vorgestellt: Der Bildungsgraben. Je höher der Anteil an Hochschulabschlüssen in einem Bezirk, umso tiefer die Zustimmung zur Masseneinwanderungs-Initiative. Und umgekehrt: Je höher der Anteil an Berufsbildungsabschlüssen, umso höher die Zustimmung.
Politische Gräben. Nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014 zur Masseneinwanderungs-Initiative wurde viel zu den politischen Gräben in der Schweiz geschrieben, insbesondere zum Stadt-Land-Graben und zum Röstigraben. Ja, auch der Generationengraben wurde bemüht. Und gerade rechtzeitig hat uns Werner Seitz (2014) seine Geschichte der politischen Gräben vorgelegt. Er geht aus von Stein Rokkans Konzept der „Cleavages“ (*Lipset und Rokkan 1967), welche gemäss Seitz (S.18) in der Politikwissenschaft häufig als ideologisch und organisatorisch verfestigte Konfliktlinien definiert werden. Kerr (1974) hat dann den Begriff der „Cross-cutting cleavages“ geprägt und damit auf das Phänomen hingewiesen, dass sich regionale Konfliktlinien oft überschneiden, also etwa wirtschaftliche, konfessionelle und sprachliche Differenzen nicht denselben geografischen Grenzlinien folgen. Solche Überschneidungen verhindern, dass sich die Antagonismen zu einer explosiven Situation entwickeln. 
Seitz zeigt uns anhand regionaler Abstimmungs- und Wahlresultate die historische Dimension der politischen Gräben in der Schweiz. Wobei er statt von „Cleavages“ vielmehr von „unterschiedlichen Weltbildern, Werten, Interessen oder Haltungen diesseits und jenseits der poltischen Gräben“ (S.18) spricht und dabei die konfessionellen, sprachregionalen und die Stadt-Land-Gegensätze als Gräben analysiert. Seine Untersuchung bestätigt die thematische Abhängigkeit der Relevanz einzelner Gräben (je nach Abstimmungsthema sind andere Gräben von besonderer Bedeutung) und implizit auch die These der Cross-cutting cleavages.
Der Bildungsgraben. Diesen üblicherweise diskutierten Unterschiedlichkeiten soll hier eine zusätzliche Dimension zugefügt werden: Der Bildungsgraben. Der Bildungsstand der Bevölkerung ist regional ebenfalls unterschiedlich und die Differenzen sind beachtlich: Gemäss einer Sonderauswertung des BFS besitzen etwa im Bezirk[1] Leuk im Kanton Wallis 11.5% der Bevölkerung einen Abschluss auf Tertärstufe (typischer Abschluss: Hochschule); im Bezirk der Stadt Zürich sind es mit 42.2% fast vier Mal mehr.

Und bei den Abschlüssen auf Sekundarstufe II (typischer Abschluss: Berufsbildung) sind die Unterschiede ähnlich gross: 32.8% im Bezirk Lausanne und fast doppelt so viel mit 62.7% im Bezirk Oberklettgau im Kanton Schaffhausen. Der Bevölkerungsanteil ohne nachobligatorischen Abschluss schwankt von 15.1% im Bezirk Meilen (ZH) bis zu 40.3% im Bezirk Martigny (VS).
Bekanntlich weisen auch die Abstimmungsresultate zur Masseneinwanderungs-Initiative beträchtliche regionale Differenzen auf: So stimmten in den städtischen Bezirken Zürich und Lausanne nur 33.4%, im Bezirk Riviera (TI) hingegen 74.4% der Stimmenden der Initiative zu (BFS 2014)
Der Bildungsstand der Bevölkerung als wichtiger Faktor. Die Frage stellt sich nun, ob der Bildungsstand der Bevölkerung etwas mit dem Abstimmungsresultat zu tun hat. Wir setzen deshalb die Variablen Bildungsstand und JA-Stimmenanteile in einer Regressionsrechnung miteinander in Beziehung und stellen fest, dass der Anteil der Abschlüsse auf Tertiärstufe (typischer Abschluss: Hochschule) einen starken negativen Zusammenhang mit dem Abstimmungsresultat aufweist (Korrelationskoeffizient r=-0.55).


Deutlich sehen wir rechts unten beispielsweise die Bezirke von Zürich, Nyon, Lavaux-Oron oder Meilen, in welchen rund zwei Fünftel der Bevölkerung, also rund 40%, einen Bildungsabschluss auf der Tertiärstufe aufweisen. Hier war die Zustimmung zur Initiative klar schwächer als der schweizerische Durchschnitt von ca. 50%. Im Gegensatz dazu stehen links oben etwa die Bezirke von Leuk, Bernina oder Toggenburg, wo tiefe Tertiär-Anteile mit hoher Zustimmung zur Initiative einhergehen. Generell bewegen sich die Bezirke relativ eng um eine Gerade, die von links oben nach rechts unten führt und die Aussage erlaubt: Je höher der Anteil an Abschlüssen der Tertiärstufe, umso tiefer ist die Zustimmung zur Initiative. (Für statistisch Interessierte: Der Determinationskoeffizient beträgt 0.31, die Variation des Bildungsstandes erklärt also fast einen Drittel der unterschiedlichen Ja-Anteile).
Der Zusammenhang zwischen den Anteilen der sekundären  Bildungsabschlüsse (typischerweise Berufsbildungsabschlüsse) und den Abstimmungsresultaten ist noch stärker ausgeprägt, geht jedoch in die andere Richtung (Korrelationskoeffizient r= 0.60, Determinationskoeffizient R2=0.37): Je höher die Quote an sekundären Abschlüssen, umso höher ist die Zustimmung zur Initiative.   Die Bevölkerungsanteile ohne nachobligatorischen Bildungsabschluss haben hingegen keinen Zusammenhang mit dem Abstimmungsresultat.
Strukturelle und individuelle Einflussfaktoren.  Natürlich wollen wir nicht in die Falle des ökologischen Fehlschlusses (Robinson 1950) tappen. Die ausgewiesenen Zusammenhänge auf Bezirkseben heissen noch nicht, dass Akademiker die Initiative eher abgelehnt oder Personen mit Berufsausbildung diese eher angenommen haben. Möglicherweise ist der Bildungsstand ja nur ein Indikator für wirtschaftliche und kulturelle Strukturen, die  ihrerseits mehr Weltoffenheit begünstigen. Andererseits zeigt uns der Sozialbericht 2012, dass auch auf individueller Ebene je nach Bildungsstand markante Unterschiede bei Fragen des EU-Beitritts oder der Gleichberechtigung zwischen Schweizern und Ausländern bestehen. Bildungsstand, Bildungskarriere und Bildungsinhalte scheinen neben dem sozio-kulturellen Kontext gerade in politischen Fragen wesentliche Faktoren darzustellen.
                                                                                                                        
Kerr Henry H., (1974). Switzerland: Social Cleavages and Partisan Conflict. London: Sage.
*Lipset, S. M. & Rokkan, S. (1967). Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments: an Introduction, pp. 1–67, in: S.M. Lipset & S. Rokkan (eds.), Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives. New York: Free Press
Robinson, W. S. (1950): Ecological Correlations and the Behavior of Individuals, in: American Sociological Review, Jg. 15, Nr. 2, S. 351-357.
Seitz W. (2014). Geschichte der politischen Gräben in der Schweiz. Zürich: Rüegger
*Zitiert nach Seitz 2014


[1] Da der Bildungsabschluss bei der Volkszählung nur stichprobenartig erfasst wird, können die Informationen nicht auf Gemeindestufe analysiert werden. 

22.06.2014

Lehrling gesucht – bereits fertig ausgebildet

Jetzt ist wieder die Zeit der Lehrstellensuche. Überall gehen SchulabgängerInnen auf die Suche nach einer passenden Lehrstelle, und Unternehmen halten Ausschau nach passenden Auszubildenden. Dabei wird die Zeit schon etwas knapp, denn die Recherchen laufen schon seit Monaten.

So hat ein wichtiges Bundesamt bereits im August des letzten Jahres in der Zeitung „Der Bund“ ein Inserat geschaltet, um eine Lehrstelle als Kauffrau / Kaufmann zu besetzen. Aufgefallen sind dabei unter anderem die Voraussetzungen, die eine Kandidatin oder ein Kandidat mitbringen muss. Zuerst einmal werden nicht etwa Personen oder SchulabgängerInnen oder einfach Jugendliche gesucht, sondern richtige „Persönlichkeiten“. Dazu werden ausgezeichnete Deutschkenntnisse, ein guter schriftlicher und mündlicher Ausdruck sowie das Beherrschen des Zehnfingersystems gefordert. Gewünscht sind auch ein Flair für Zahlen, gute Fremdsprachenkenntnisse sowie PC-Anwender-Kompetenzen in der Windows-Palette. Gleichzeitig gelten ein freundliches Auftreten, Organisationstalent und der Auftritt als Teamplayer als Grundbedingungen. Quasi ausgeschlossen werden Jugendliche, welche die obligatorische Schule in einem Leistungstyp mit Grundansprüchen (im Kanton Bern etwa Realschule genannt) absolvieren; sie haben nur dann eine Chance, wenn sie ein weiteres 10. Schuljahr besuchen. Hier der entsprechende Ausschnitt:


Fähigkeiten wie Zehnfingersystem, Organisationstalent, guter schriftlicher Ausdruck, Fremdsprachenkenntnisse und Beherrschen der Windows-Palette (etwa Word, Excel, PowerPoint) werden ja in der Regel bei voll ausgebildeten Kaufleuten nachgefragt und nicht bereits bei Jugendlichen, welche erst eine entsprechende Ausbildung beginnen möchten. Das Bundesamt scheint ein typisches Beispiel von Lehrbetrieben zu sein, welche hohe Qualifikationen bei den Auszubildenden nachfragen. Diese sollen offensichtlich möglichst rasch und mit möglichst geringem Betreuungsaufwand produktiv im Alltagsgeschäft eingesetzt werden können - zu Lehrlingslöhnen natürlich. So wird es denn auch möglich, dass die Ausbildungstätigkeit von Betrieben weniger auf der Aufwandseite als vielmehr profitabel auf der Gewinnseite verbucht werden kann. Gemäss dem schweizerischen Bildungsbericht 2010, der sich auf wissenschaftliche Studien stützt (Mühlemann, Schweri, Winkelmann et.al. 2007 sowie Mühlemann, Wolter, Fuhrer et al. 2007), ist es denn auch für eine Mehrheit der auszubildenden Betriebe sehr wichtig, dass die anfallenden Ausbildungskosten bereits während der Lehre durch einen entsprechenden Nutzen kompensiert werden. So werden in der Schweiz zwei Drittel der Lehrverhältnisse mit einem Nettonutzen für die Betriebe abgeschlossen, das heisst, das Lehrverhältnis rentiert für die ausbildenden Firmen. Solche Befunde werden durch den Bildungsbericht 2014 bestätigt.


Es gibt allerdings auch Kehrseiten dieser betrieblichen Strategien, vor allem hochqualifizierte SchulabgängerInnen zu rekrutieren. Offensichtlich herrscht gegenwärtig ein Mangel an „geeigneten“ Lehrlingen, sodass zahlreiche Lehrstellen im Moment unbesetzt sind. Bundesrat Schneider-Ammann möchte deshalb sogar Lehrlinge im Ausland rekrutieren. Margrit Stamm, Leiterin des Instituts für Bildungsfragen in Bern, bezeichnet auf der Basis ihrer 2013 veröffentlichten  Studie solche Strategien als verfehlt: „ Die einseitigen Klagen über die «fehlende Ausbildungsreife» sind wenig innovativ und bilden nur die die eine Seite der Medaille ab. Denn wer zu sehr auf schulische Kompetenzmerkmale setzt, schränkt den Kreis potenziell guter Bewerberinnen und Bewerber stark ein und nutzt das Potenzial in keiner Art und Weise. Sie weist darauf hin, dass das qualifikationsbezogene Passungsproblem, bei dem die Leistungsvoraussetzungen der Stellensuchenden nicht den Erwartungen der Betriebe entsprechen, das gewichtigste sei. Wichtiger als etwa das berufliche Passungsproblem, bei dem die Betriebe Lehrstellen anbieten, welche nicht nachgefragt werden.
Generell ist wohl der abrupte Wechsel von einer pädagogischen Logik des Förderns, wie sie in der obligatorischen Schule als massgeblich behauptet wird, zu einer Logik der ökonomischen Gewinnorientierung im nachobligatorischen Bereich, nicht problemlos. Für einen Grossteil der Jugendlichen wird Bildung im nachobligatorischen Bereich auf die Ausbildung wirtschaftlich verwertbarer Fähigkeiten limitiert, und die Vorbereitung auf andere wichtige gesellschaftliche Rollen wird weitgehend vernachlässigt. Zudem treten beim Übergang zahlreiche Schwierigkeiten auf und erfordern Hilfslösungen wie das 10.Schuljahr oder vielfältige Brückenangebote, welche eher den Anschein einer Pflästerlipolitik erwecken, denn als Bestandteil einer soliden Gesamtstrategie gelten können.


Gleichzeitig wirkt diese Dominanz einer auf rein wirtschaftlich-berufliche Aspekte eingeschränkten Sichtweise weit zurück in die obligatorische Schule. Diese muss ja gemäss der Humankapital-Theorie möglichst klare Signale produzieren, um den Auswahlprozess der Arbeitgeber zu erleichtern. Die formellen Selektions- und Etikettierungsprozesse mit der Leistungsgliederung auf der Sekundarstufe I sind dazu ebenso übliche Instrumente wie die Notengebung in den sogenannten Kernfächern. Beides sind Auslesekriterien erster Güte, wenn es um die Besetzung der Lehrstellen geht.
Dieser abrupte Übergang, der auch eine frühzeitige Karriereentscheidung beinhaltet, führt bei vielen Akteuren zu gewaltigem Stress: bei den Schülerinnen und Schülern in erster Linie, bei ihren Eltern, bei den Lehrern, und auch bei den Lehrbetrieben, und nicht zuletzt bei den politisch Verantwortlichen. Entschärfen liesse sich diese Situation am einfachsten durch eine Fortführung der obligatorischen Schulpflicht bis ins 18. Altersjahr, wobei eine erste Aufgliederung der Bildungslaufbahnen, auch mit einer starken Präsenz der Berufsbildung, ab dem 10. Schuljahr durchaus sinnvoll ist. Entsprechenden Vorstellungen der Lehrpersonenverbände LCH und SER (2013) sind deshalb aufmerksam zu verfolgen.
                                                                                                                                    
LCH / Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer und SER/ Syndicat des enseignants romands (2013). Bildung & Wirtschaft im Dialog. Thesen der Schweizer Lehrpersonenverbände LCH und SER. 2. Schweizer Bildungstag 2013
Muehlemann, S., Schweri, J., Winkelmann, R., & Wolter, S. C. (2007). An Empirical Analysis of the Decision to Train Apprentices. In: Labour, 21(3), 419–441.
Mühlemann, S.; Wolter, S. C.; Fuhrer, M. et al. (2007). Lehrlingsausbildung – ökonomisch betrachtet. Zürich: Rüegger
Schneebeli Daniel (2013), Lehrfirmen tragen eine Mitschuld. In: Der Bund vom 21.8.2013
SKBF - Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung. (2014).Bildungsbericht Schweiz 2014. Aarau: SKBF.
SKBF - Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung. (2010).Bildungsbericht Schweiz 2010. Aarau: SKBF.
Stamm Margrit (2013), Lehrlingsmangel - Strategien für die Rekrutierung des Nachwuchses. Dossier Berufsbildung 13/2. Bern: Swiss Institute for Educational Issues  

  



05.05.2014

Tells Apfelschuss und die Mindestlöhne

Eigentlich war hier nicht beabsichtigt, die Mindestlohn-Initiative zu kommentieren. Zu einleuchtend ist meines Erachtens das Argument, dass Alle, die Vollzeit arbeiten, in der Lage sein müssen, mit ihrem Verdienst  auch einen anständigen Lebensunterhalt zu bestreiten. Es ist nicht einzusehen, warum der Staat mit rund 100 Millionen via Sozialhilfe Unternehmen subventionieren soll, die im Wettbewerb des freien Marktes nicht mit anständigen Löhnen bestehen können.
Aber neuerdings wird auch argumentiert, die Berufsbildung würde durch die Mindestlöhne gefährdet, da einerseits die Jugendlichen keinen Anreiz mehr hätten, sich ausbilden zu lassen, und andererseits die Unternehmen es sich nicht mehr leisten könnten,  bei solchen Löhnen auch noch Lehrstellen zu schaffen (siehe Ursula Renold, NZZ am Sonntag vom 27. April 2014). Und da ja in der Mythologie  zur historischen Erfolgsgeschichte der Schweiz die Berufsbildung etwa auf dem Level von Tells Apfelschuss figuriert, lohnt es sich doch, diese Argumente etwas näher zu betrachten.
Logik 1
Das erste Argument behauptet, mit einem Mindestlohn von CHF 4000 hätten die Jugendlichen keinen Anreiz mehr, eine Lehre anzutreten;  sie würden lieber direkt in den Arbeitsmarkt gehen und einen Normallohn beziehen. Nun mag ja kurzfristiges Profitdenken in der Wirtschaftswelt durchaus weit verbreitet sein; auf dieser Schiene fahren die Jugendlichen jedoch offensichtlich nicht. Bereits heute könnten sie ja in einem Volljob als Ungelernte wesentlich besser verdienen als mit dem kleinen Lehrlingslohn. Und wenn man das Argument zu Ende denkt, gäbe es kaum mehr Ärzte, Notare oder Ingenieure. Eine gymnasial-akademische Karriere bedeutet ja, nach der obligatorischen Schule  während acht bis zehn Jahren Ausbildung, keinen Lohn zu erhalten. Jugendliche denken offensichtlich langfristiger, und ein guter Mindestlohn nach der Lehre macht die Berufsausbildung wesentlich attraktiver als heute, wo rund 10% der Berufsleute mit Lehrabschluss auf einer Tieflohnstelle sitzen.

                                Quelle: BFS 2010

Und dass viele Lehrstellen unbesetzt bleiben, liegt nicht daran, dass die jungen Leute den direkten Einstieg in eine Normalstelle bevorzugen, sondern ist die Folge der teilweise überrissenen Anforderungen, welche die Arbeitgeber an die Lehrstellen Suchenden stellen, wie Margrit Stamm in einer Studie festgestellt hat.
Logik 2
Das zweite Argument besagt, die Betriebe hätten bei so hohen Mindestlöhnen keine Mittel mehr, Aus- und Weiterbildung zu betreiben. Nun ist ja die Berufsausbildung ebenso wie die Weiterbildung nicht eine Wohltätigkeits-Aktivität der Unternehmen, sondern folgt ebenso der ökonomischen Logik wie das Alltagsgeschäft. Der Schweizerische Bildungsbericht 2014 (Seite 134) ist dieser Frage nachgegangen und zeigt, dass die Berufsausbildung für die beteiligten Betriebe eine profitable Angelegenheit darstellt. Die Lernenden erbringen während der Lehrzeit ja auch produktive Beiträge in Form von Arbeit, und diese Beiträge übersteigen die Kosten der Ausbildungsleistungen der Betriebe. Das heisst, die ausbildenden Betriebe benutzen die Lernenden als billige Arbeitskräfte und profitieren von ihnen. Dies ist der direkte Nutzen. Der indirekte Nutzen besteht gemäss Bildungsbericht darin, dass es später teurer käme, die Leute anzulernen. Und ähnlich dürfte es sich bei der Weiterbildung verhalten. Nun ist ja zu erwarten, dass bei steigenden Kosten der Normallöhne versucht wird, mehr von den billigeren Arbeitskräften (Lehrverhältnisse) zu profitieren. Gemäss der Profitlogik dürften also eher mehr Lehrstellen als weniger geschaffen werden.
Die Legendenbildung zum nationalen Wohlbefinden ist nicht ein unschuldiges Geschäft. Sie dient vielfach den Interessen der privilegierten Schichten und damit der Verfestigung bestehender Machtverhältnisse. Allerdings zeigt ein etwas genauerer Blick oft, dass sie mit Logik oder empirischer Realität wenig zu tun haben. Tells Apfelschuss kann auch daneben gehen. 

28.03.2014

Jugendschutz – Für wen?

Gegenwärtig läuft die Vernehmlassung zur Änderung der Verordnung 5 zum Arbeitsgesetz (ArGV 5). Was nach einer eher technischen Angelegenheit tönt, entpuppt sich beim näheren Hinsehen doch als eher problematische Angelegenheit. Inhaltlich geht es – gemäss Begleitschreibens des Seco - für Jugendliche in der beruflichen Grundbildung um die Senkung des Schutzalters für gefährliche Arbeiten von 16 auf 15 Jahre, damit sie nach dem Inkrafttreten des HarmoS-Konkordates keine Schwierigkeiten bei der Lehrstellensuche haben.  
Dabei gelten gemäss Artikel 4 dieser Verordnung 5  als „gefährlich“ alle Arbeiten, „die ihrer Natur nach oder aufgrund der Umstände, unter denen sie verrichtet werden, die Gesundheit, die Ausbildung und die Sicherheit der Jugendlichen sowie deren physische und psychische Entwicklung beeinträchtigen können.“ Nun sind diese Gefährdungen nicht ganz harmlos, wie die Präzisierungen des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) zeigen. Man versteht darunter zum Beispiel
  • Arbeiten mit dem Risiko physischen, psychischen, moralischen oder sexuellen Missbrauchs wie Prostitution oder die Herstellung pornographischer Darstellungen;
  • Arbeiten mit gesundheitsgefährdenden chemischen oder biologischen Agenzien;
  • Arbeiten mit Maschinen, Ausrüstungen oder Werkzeugen, die mit Unfallgefahren verbunden sind, von denen anzunehmen ist, dass Jugendliche sie nicht erkennen oder abwenden können;
  • Arbeiten, bei denen eine erhebliche Brand-, Explosions-, Unfall-, Krankheits- oder Vergiftungsgefahr besteht.
Eigentlich sollten auf Grund eines internationalen Übereinkommens und dem darauf beruhenden Artikel 29 des Arbeitsgesetzes solche Arbeiten für Jugendliche zum Schutze des Lebens oder der Gesundheit untersagt werden. Allerdings bestimmt dieses Übereinkommen auch, dass es nicht anwendbar ist, sofern die Arbeiten Bestandteil eines Ausbildungsprogrammes – also beispielsweise der Berufsbildung - sind. Die bisherige Verordnung 5 erlaubt denn auch, für Jugendliche ab 16 Jahren Ausnahmen vorzusehen, sofern dies für die Ausbildung notwendig ist. Dabei müssen allerdings Massnahmen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes festgelegt werden.
Wie das etwa aussieht, kann am Beispiel der Bildungsverordnung für den Maurerberuf illustriert werden. Da heisst es in Artikel 7 zum Thema Arbeitssicherheit, Gesundheitsschutz und Umweltschutz:
3 In Abweichung von Artikel 4 Absatz 1 ArGV 5 können die Lernenden entsprechend ihrem Ausbildungsstand herangezogen werden für Arbeiten mit Maschinen, Ausrüstungen oder Werkzeugen, die mit Unfallgefahren verbunden sind, von denen anzunehmen ist, dass Jugendliche sie normalerweise wegen mangelnden Sicherheitsbewusstseins oder wegen mangelnder Erfahrung oder Ausbildung nicht erkennen oder nicht abwenden können.
4 Voraussetzung ist eine den erhöhten Gefährdungen angepasste verstärkte Ausbildung, Anleitung und Überwachung; diese werden in Leistungszielen zu Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz im Bildungsplan festgelegt.

Die Lernenden in der Berufsbildung können somit zu Arbeiten beigezogen werden, die mit einer erhöhten Gefährdung verbunden sind. Dabei geht es um Unfallgefahren, von denen anzunehmen ist, dass Jugendliche sie normalerweise nicht erkennen oder nicht abwenden können. Mit angepassten Massnahmen zum Gesundheitsschutz will man allerdings dem erhöhten Risiko vorbeugen.


Bereits heute sind - offensichtlich trotz dieser begleitenden Massnahmen - rund 25‘000 Berufsunfälle in Lehrverhältnissen zu verzeichnen (Erläuternder Bericht des Seco). Gemessen an den rund 200‘000 Lehrverhältnissen sind das 125 Unfälle pro 1000 Lehrverhältnissen, oder jährlich passiert in jedem 8. Lehrverhältnis ein Unfall, der den Beizug einer Unfallversicherung notwendig macht.
Besonders hoch ist das Risiko – über alle Arbeitnehmer gesehen – in der Bauwirtschaft. Es beträgt gemäss Grafik 1 rund 184.5 Fälle pro 1000 Vollbeschäftigte und ist damit fast dreimal so hoch wie bei der Gesamtheit der Beschäftigten.  


Gleichzeitig geht aus der SSUV Fünfjahresstatistik hervor, dass in allen Branchen die Jugendlichen besonders gefährdet sind. Die im Gesetz und in der bisherigen Verordnung 5 geäusserte Vermutung, dass Jugendliche „wegen mangelnden Sicherheitsbewusstseins oder wegen mangelnder Erfahrung oder Ausbildung“ besonderen Risiken ausgesetzt sind, bestätigt sich somit. So weisen etwa 15-24 jährige Männer ein fast doppelt so hohes Risiko auf als die Gesamtheit der berufstätigen Männer.



Diese Zahlen sind eindeutig zu hoch und geben zu denken. Offensichtlich zeigt hier der Übergang von der pädagogischen Logik der obligatorischen Schule zur ökonomischen Logik der Berufsausbildung seine Auswirkungen: Wenn unter wirtschaftlichem Druck produziert werden muss, wird der Gesundheitsschutz der Jugendlichen sekundär. Jedenfalls ist es angesichts der überdurchschnittlich häufigen Unfälle in Lehrverhältnissen und bei Jugendlichen nicht zu verantworten, einfach das Schutzalter zu senken.
Dies sieht auch das Seco so. Es ist deshalb vorgesehen, in den Verordnungsbestimmungen den Unfallschutz auszubauen, Massnahmen der Arbeitssicherheit in den Bildungsplänen zu verankern und vermehrt Expertinnen und Experten beizuziehen. Gleichzeitig werden Präventionsmassnahmen  und Kampagnen, die sich an die Lernenden und die Ausbildner richten durchgeführt. Ziel ist es, in den nächsten Jahren die Zahl der Berufsunfälle in der Lehrzeit zu halbieren. Allerdings ist die Wirksamkeit dieser Massnahmen noch keineswegs gewährleistet, da ja auch bisher gefährliche Arbeiten von Jugendlichen nur durchgeführt werden durften, wenn entsprechenden Anleitungs- und Schutzmassnahmen ergriffen wurden. Mit wenig Erfolg, wie die Zahlen zeigen.
Wenn unsere Hypothese stimmt, dass die Berufsunfälle wesentlich durch die ökonomische Logik beeinflusst sind, müssen auch die Massnahmen bei dieser ökonomischen Logik ansetzen, zum Beispiel mit Sanktionen, falls das Risiko mehr als 100 Unfälle pro 1000 Arbeitnehmende beträgt. Und wenn einzelne Betriebe oder gar ganzen Branchen exzessive Unfallzahlen ausweisen, und damit anzeigen, dass sie nicht in der Lage sind, die Gesundheit und Unversehrtheit der Jugendlichen, die ihnen zur Ausbildung anvertraut werden, zu schützen, ist ihnen die Berechtigung zur Berufsausbildung zu entziehen.  
Fazit
Der Vorschlag des Seco zur Änderung der Jugendarbeitsschutzverordnung führt zu folgenden Feststellungen:
  • Die Zahl der Berufsunfälle ist erschreckend hoch (Unfallstatistik 2013 bzw. Fünfjahresstatistik 2007 der SSUV). Dabei weisen die jüngeren Altersgruppen, bzw. die Lernenden in der Ausbildung ein überproportionales Unfallrisiko auf. Das sind wohl Auswirkungen des Wechsels von der pädagogischen Logik der obligatorischen Schule zur ökonomischen Logik der Berufsausbildung. In einzelnen Branchen ist das Risiko exzessiv hoch.
  • Heute gilt die Grundregel, dass Jugendliche bis zum 18. Altersjahr nicht mit gefährlichen Arbeitssituationen in Kontakt kommen dürfen. Ausnahmen sind ab dem 16. Altersjahr für Lernende der Berufsausbildung erlaubt, wenn entsprechende Begleitmassnahmen zum Gesundheitsschutz ergriffen werden. Das Seco möchte nun diese Altersgrenze auf 15 Jahre senken.
  • Da die Auflagen zu Begleitmassnahmen bisher nur wenig Wirkung zeigten, schlägt das Seco ein griffigeres Instrumentarium vor, ohne allerdings bei der ökonomischen Logik anzusetzen. Die Wirksamkeit dieser neuen Massnahmen ist denn auch noch keineswegs belegt. 

Angesichts dieses Sachverhaltes sind wohl folgende Konsequenzen angesagt:
  • Da die Unfallzahlen mit der Jugendlichkeit der Arbeitsnehmenden bzw. der Lernenden zunehmen, ist angesichts des hohen ausgewiesenen Risikos eine Senkung des Schutzalters kaum zu verantworten.
  • Die zusätzlichen Massnahmen, welche das Seco vorschlägt, sind zu unterstützen. Falls damit bis 2018, wie vorgesehen, die Halbierung der Unfallzahlen effektiv gelingt, und sich die Situation vor allem für die Jugendlichen entscheidend bessert, kann erneut über die Altersgrenze diskutiert werden. Allenfalls ist auch vorzusehen, bei der ökonomischen Logik der Unternehmen anzusetzen.
  • Wenn einzelne Betriebe oder Branchen exzessiv hohe Unfallzahlen aufweisen, ist ihnen die Berechtigung zur Berufsausbildung zu entziehen. Sie sind offensichtlich nicht in der Lage, die Gesundheit und Unversehrtheit der Jugendlichen zu schützen, die ihnen zur Ausbildung anvertraut werden. 




13.02.2014

Artenschutz

Dieser Post handelt nur wenig von Bildung; aber nach den Ergebnissen der letzten Volksabstimmung muss man sich ja ein paar Gedanken zum Ausländerproblem machen. Obschon, ein wenig ist ja auch die Schule davon betroffen. Denn die ausländische Bevölkerung verursacht ja nicht nur überfüllte Züge, knappen Wohnraum und Dumpinglöhne, sondern auch das, was das Bundesamt für Statistik „kulturelle Heterogenität der Schulabteilungen“ nennt: Schulklassen, in denen 30% oder mehr der Schülerinnen und Schüler ausländischer Nationalität sind oder über eine ausländische Muttersprache verfügen. Vier von zehn Schulklassen in der Schweiz sind in dieser Lage, wo fremdartige Kinder die eingeborenen Mitlernenden durch unschweizerisches Gehabe erschrecken und für die Lehrkräfte eine Herausforderung darstellen: Wie soll man jemandem das Rechnen beibringen, die aus einem Land kommt, wo etwa Eisbein gegessen, oder „Küss die Hand, Gnä‘ Frau“ gesagt oder von der amalfitanischen Küste geschwärmt wird?

Die Menge machts. Und so sind wir ja wieder einmal internationale Spitze mit einem Anteil an ausländischen Staatsangehörigen von 22.3% im Jahre 2012 (gemäss BFS). Da sind die 9% von Deutschland oder die 6% von Frankreich sehr bescheiden und die 4% für die gesamte EU geradezu lächerlich (Daten: BFS).


Ausländische Nationalität – ein klarer Begriff?
Es ist auf den ersten Blick wohl klar, was mit der „Bevölkerung mit ausländischer Nationalität“ gemeint ist. Das ist jener Teil der Wohnbevölkerung, der keinen Schweizer Pass hat und als Erwachsener nicht abstimmen darf, obwohl er hier lebt und in der Regel hier arbeitet und Steuern bezahlt. Auf den zweiten Blick allerdings ist dieser Begriff doch mit einigen Fragezeichen behaftet.
„Ausländer/in“ wird ja vielfach als Bezeichnung für das Fremde, für das nicht zur eigenen Kultur Gehörige, benutzt. Deshalb ist der Begriff und die entsprechende Quote ja auch so anfällig, um Ängste und Abwehrreaktionen hervor zu rufen. Und es ist wohl anzunehmen, dass die geographische Distanz einen wichtigen Indikator darstellt: je weiter weg die Herkunft, umso „fremder“ erscheint uns ein Mensch. Da ist es allerdings schon erstaunlich, dass beispielsweise für Kreuzlingen eine Person aus dem 6 Kilometer entfernten, deutsch sprachigen Konstanz mit dem Etikett „Ausländer/in“ versehen wird, jemand aus dem französisch sprachigen, rund 300 Kilometer entfernten Martigny hingegen nicht in die Quote der ausländischen Bevölkerung einfliesst. Die Legaldefinition der ausländischen Nationalität ist offensichtlich nicht optimal, um die gesellschaftliche Problematik von „Fremdem“ und „Eigenem“ zu betrachten.
Gedankenspiele
Wenn wir diesen Gedanken weiterspinnen, könne wir die Schweiz mit ihren rund 8 Mio Einwohnern mit dem deutschen Bundesland Niedersachsen vergleichen, wo gemäss dem Statistischen Bundesamt etwa gleich viele Leute, nämlich rund 7.8 Mio Leute leben. Falls nun ein Unternehmen Arbeitskräfte sucht, ist das Potential, welches unmittelbar in den eigenen Grenzen verfügbar ist, in der Schweiz und in Niedersachsen etwa gleich. Wenn das Unternehmen jedoch über die Grenzen des eigenen geografischen Raumes hinaus muss, so betrifft dies in der Schweiz sofort die Ausländerproblematik, in Niedersachsen hingegen steht noch ein Raum mit 72 Millionen „einheimischen“ (deutschen) Einwohnerinnen und Einwohnern für die weitere Rekrutierungsstrategie zur Verfügung. Und man stelle sich nun vor (rein hypothetisch natürlich), Niedersachsen würde die Unabhängigkeit von Deutschland deklarieren und einen selbständigen Staat bilden – die Ausländerquote, welche im Moment nur 6.3% beträgt, würde sofort gewaltig ansteigen.


Dieses Beispiel zeigt, dass Ausländeranteile international nicht einfach vergleichbar sind. In der Tat sind Migrationsströme ähnlicher Grössenordnung in grossen Ländern wenig problematisch, da sie oft als Binnenwanderungen auftreten, bei kleinen Ländern jedoch werden sie rasch zu einem „Ausländerproblem“. Und so haben denn auch kleine Länder wie die Schweiz, Luxemburg oder Liechtenstein hohe Ausländeranteile (23%, 43% und 33%), grössere Länder hingegen wie Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien (9%, 6% und 8%) vergleichsweise kleine.
Lösungswege für die Schweiz
Das Beispiel zeigt auch Lösungswege für die Schweiz auf, wo ja bekanntlich die hohe Quote von Personen, welche keinen Schweizer Pass haben, für überfüllte Züge, knappen Wohnraum und ähnliche Probleme verantwortlich sein sollen. Wenn beispielsweise die EU sich von einem Staatenbund zu einem Bundesstaat wandelte, also eine eigentliche Nation wie die USA würde, und die Schweiz dann beitritt, dann sinkt die Ausländerquote in der Schweiz um rund zwei Drittel – da ja dann alle EU-Bürger automatisch zu Inländern würden. Dann wäre das Ausländerproblem weitgehend aus dem Weg geschafft, und wir könnten uns jenen Problemen annehmen, welche sich tatsächlich stellen.
Ein anderer Weg wäre geradezu entgegengesetzt. Wir fahren weiter auf dem Weg der Abschottung und verstärken ihn auch innerhalb der Schweiz: Kantone, Regionen, ja auch grössere Gemeinden werden zu eigenständigen Nationen, mit eigenen Zöllen, eigener Währung und eigenen Pässen – natürlich immer mit dem Argument, das wir (auch auf regionaler Ebene) selber und unabhängig von zentralen Instanzen bestimmen wollen. So würden wir immer kleinräumiger die Umgebungen als Ausland definieren, bis wir Alle Ausländerinnen und Ausländer sind. Und so gibt es dann kein eigentliches Ausländerproblem mehr – weil uns niemand ausgrenzen muss/kann -, und wir könnten uns in der Rationalität der Problemlösung dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, der Raumplanung, der Siedlungspolitik und sinnvollen Mindestlöhnen widmen. Allerdings hätten wir dann die Schwierigkeit, dass wir Alle mit ausländischer Nationalität kein Stimmrecht hätten, um diese Politik zu bestimmen und zu realisieren.
Fazit
Der Ausländerbegriff wird benutzt, um „Fremdes“ von „Bei uns“ abzugrenzen, wobei „Fremdes“ oft mit Bedrohung und Bösartigkeit assoziiert wird (Lohndumping, Kriminalität, Sozialhilfe-Betrug). Er kann deshalb leicht für das Schüren von Ängsten und emotionale Reaktionen benutzt werden. Eine nähere Betrachtung zeigt allerdings, dass der Begriff und die mit ihm verbundene Ausländerquote für eine Politik, die sich am Postulat der Problemlösung orientiert, irreführend und untauglich ist. Verbunden mit statistischen Taschenspieler-Tricks verleiten sie zu abstrusen Folgerungen und Entscheiden.