22.06.2014

Lehrling gesucht – bereits fertig ausgebildet

Jetzt ist wieder die Zeit der Lehrstellensuche. Überall gehen SchulabgängerInnen auf die Suche nach einer passenden Lehrstelle, und Unternehmen halten Ausschau nach passenden Auszubildenden. Dabei wird die Zeit schon etwas knapp, denn die Recherchen laufen schon seit Monaten.

So hat ein wichtiges Bundesamt bereits im August des letzten Jahres in der Zeitung „Der Bund“ ein Inserat geschaltet, um eine Lehrstelle als Kauffrau / Kaufmann zu besetzen. Aufgefallen sind dabei unter anderem die Voraussetzungen, die eine Kandidatin oder ein Kandidat mitbringen muss. Zuerst einmal werden nicht etwa Personen oder SchulabgängerInnen oder einfach Jugendliche gesucht, sondern richtige „Persönlichkeiten“. Dazu werden ausgezeichnete Deutschkenntnisse, ein guter schriftlicher und mündlicher Ausdruck sowie das Beherrschen des Zehnfingersystems gefordert. Gewünscht sind auch ein Flair für Zahlen, gute Fremdsprachenkenntnisse sowie PC-Anwender-Kompetenzen in der Windows-Palette. Gleichzeitig gelten ein freundliches Auftreten, Organisationstalent und der Auftritt als Teamplayer als Grundbedingungen. Quasi ausgeschlossen werden Jugendliche, welche die obligatorische Schule in einem Leistungstyp mit Grundansprüchen (im Kanton Bern etwa Realschule genannt) absolvieren; sie haben nur dann eine Chance, wenn sie ein weiteres 10. Schuljahr besuchen. Hier der entsprechende Ausschnitt:


Fähigkeiten wie Zehnfingersystem, Organisationstalent, guter schriftlicher Ausdruck, Fremdsprachenkenntnisse und Beherrschen der Windows-Palette (etwa Word, Excel, PowerPoint) werden ja in der Regel bei voll ausgebildeten Kaufleuten nachgefragt und nicht bereits bei Jugendlichen, welche erst eine entsprechende Ausbildung beginnen möchten. Das Bundesamt scheint ein typisches Beispiel von Lehrbetrieben zu sein, welche hohe Qualifikationen bei den Auszubildenden nachfragen. Diese sollen offensichtlich möglichst rasch und mit möglichst geringem Betreuungsaufwand produktiv im Alltagsgeschäft eingesetzt werden können - zu Lehrlingslöhnen natürlich. So wird es denn auch möglich, dass die Ausbildungstätigkeit von Betrieben weniger auf der Aufwandseite als vielmehr profitabel auf der Gewinnseite verbucht werden kann. Gemäss dem schweizerischen Bildungsbericht 2010, der sich auf wissenschaftliche Studien stützt (Mühlemann, Schweri, Winkelmann et.al. 2007 sowie Mühlemann, Wolter, Fuhrer et al. 2007), ist es denn auch für eine Mehrheit der auszubildenden Betriebe sehr wichtig, dass die anfallenden Ausbildungskosten bereits während der Lehre durch einen entsprechenden Nutzen kompensiert werden. So werden in der Schweiz zwei Drittel der Lehrverhältnisse mit einem Nettonutzen für die Betriebe abgeschlossen, das heisst, das Lehrverhältnis rentiert für die ausbildenden Firmen. Solche Befunde werden durch den Bildungsbericht 2014 bestätigt.


Es gibt allerdings auch Kehrseiten dieser betrieblichen Strategien, vor allem hochqualifizierte SchulabgängerInnen zu rekrutieren. Offensichtlich herrscht gegenwärtig ein Mangel an „geeigneten“ Lehrlingen, sodass zahlreiche Lehrstellen im Moment unbesetzt sind. Bundesrat Schneider-Ammann möchte deshalb sogar Lehrlinge im Ausland rekrutieren. Margrit Stamm, Leiterin des Instituts für Bildungsfragen in Bern, bezeichnet auf der Basis ihrer 2013 veröffentlichten  Studie solche Strategien als verfehlt: „ Die einseitigen Klagen über die «fehlende Ausbildungsreife» sind wenig innovativ und bilden nur die die eine Seite der Medaille ab. Denn wer zu sehr auf schulische Kompetenzmerkmale setzt, schränkt den Kreis potenziell guter Bewerberinnen und Bewerber stark ein und nutzt das Potenzial in keiner Art und Weise. Sie weist darauf hin, dass das qualifikationsbezogene Passungsproblem, bei dem die Leistungsvoraussetzungen der Stellensuchenden nicht den Erwartungen der Betriebe entsprechen, das gewichtigste sei. Wichtiger als etwa das berufliche Passungsproblem, bei dem die Betriebe Lehrstellen anbieten, welche nicht nachgefragt werden.
Generell ist wohl der abrupte Wechsel von einer pädagogischen Logik des Förderns, wie sie in der obligatorischen Schule als massgeblich behauptet wird, zu einer Logik der ökonomischen Gewinnorientierung im nachobligatorischen Bereich, nicht problemlos. Für einen Grossteil der Jugendlichen wird Bildung im nachobligatorischen Bereich auf die Ausbildung wirtschaftlich verwertbarer Fähigkeiten limitiert, und die Vorbereitung auf andere wichtige gesellschaftliche Rollen wird weitgehend vernachlässigt. Zudem treten beim Übergang zahlreiche Schwierigkeiten auf und erfordern Hilfslösungen wie das 10.Schuljahr oder vielfältige Brückenangebote, welche eher den Anschein einer Pflästerlipolitik erwecken, denn als Bestandteil einer soliden Gesamtstrategie gelten können.


Gleichzeitig wirkt diese Dominanz einer auf rein wirtschaftlich-berufliche Aspekte eingeschränkten Sichtweise weit zurück in die obligatorische Schule. Diese muss ja gemäss der Humankapital-Theorie möglichst klare Signale produzieren, um den Auswahlprozess der Arbeitgeber zu erleichtern. Die formellen Selektions- und Etikettierungsprozesse mit der Leistungsgliederung auf der Sekundarstufe I sind dazu ebenso übliche Instrumente wie die Notengebung in den sogenannten Kernfächern. Beides sind Auslesekriterien erster Güte, wenn es um die Besetzung der Lehrstellen geht.
Dieser abrupte Übergang, der auch eine frühzeitige Karriereentscheidung beinhaltet, führt bei vielen Akteuren zu gewaltigem Stress: bei den Schülerinnen und Schülern in erster Linie, bei ihren Eltern, bei den Lehrern, und auch bei den Lehrbetrieben, und nicht zuletzt bei den politisch Verantwortlichen. Entschärfen liesse sich diese Situation am einfachsten durch eine Fortführung der obligatorischen Schulpflicht bis ins 18. Altersjahr, wobei eine erste Aufgliederung der Bildungslaufbahnen, auch mit einer starken Präsenz der Berufsbildung, ab dem 10. Schuljahr durchaus sinnvoll ist. Entsprechenden Vorstellungen der Lehrpersonenverbände LCH und SER (2013) sind deshalb aufmerksam zu verfolgen.
                                                                                                                                    
LCH / Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer und SER/ Syndicat des enseignants romands (2013). Bildung & Wirtschaft im Dialog. Thesen der Schweizer Lehrpersonenverbände LCH und SER. 2. Schweizer Bildungstag 2013
Muehlemann, S., Schweri, J., Winkelmann, R., & Wolter, S. C. (2007). An Empirical Analysis of the Decision to Train Apprentices. In: Labour, 21(3), 419–441.
Mühlemann, S.; Wolter, S. C.; Fuhrer, M. et al. (2007). Lehrlingsausbildung – ökonomisch betrachtet. Zürich: Rüegger
Schneebeli Daniel (2013), Lehrfirmen tragen eine Mitschuld. In: Der Bund vom 21.8.2013
SKBF - Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung. (2014).Bildungsbericht Schweiz 2014. Aarau: SKBF.
SKBF - Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung. (2010).Bildungsbericht Schweiz 2010. Aarau: SKBF.
Stamm Margrit (2013), Lehrlingsmangel - Strategien für die Rekrutierung des Nachwuchses. Dossier Berufsbildung 13/2. Bern: Swiss Institute for Educational Issues  

  



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