28.03.2014

Jugendschutz – Für wen?

Gegenwärtig läuft die Vernehmlassung zur Änderung der Verordnung 5 zum Arbeitsgesetz (ArGV 5). Was nach einer eher technischen Angelegenheit tönt, entpuppt sich beim näheren Hinsehen doch als eher problematische Angelegenheit. Inhaltlich geht es – gemäss Begleitschreibens des Seco - für Jugendliche in der beruflichen Grundbildung um die Senkung des Schutzalters für gefährliche Arbeiten von 16 auf 15 Jahre, damit sie nach dem Inkrafttreten des HarmoS-Konkordates keine Schwierigkeiten bei der Lehrstellensuche haben.  
Dabei gelten gemäss Artikel 4 dieser Verordnung 5  als „gefährlich“ alle Arbeiten, „die ihrer Natur nach oder aufgrund der Umstände, unter denen sie verrichtet werden, die Gesundheit, die Ausbildung und die Sicherheit der Jugendlichen sowie deren physische und psychische Entwicklung beeinträchtigen können.“ Nun sind diese Gefährdungen nicht ganz harmlos, wie die Präzisierungen des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) zeigen. Man versteht darunter zum Beispiel
  • Arbeiten mit dem Risiko physischen, psychischen, moralischen oder sexuellen Missbrauchs wie Prostitution oder die Herstellung pornographischer Darstellungen;
  • Arbeiten mit gesundheitsgefährdenden chemischen oder biologischen Agenzien;
  • Arbeiten mit Maschinen, Ausrüstungen oder Werkzeugen, die mit Unfallgefahren verbunden sind, von denen anzunehmen ist, dass Jugendliche sie nicht erkennen oder abwenden können;
  • Arbeiten, bei denen eine erhebliche Brand-, Explosions-, Unfall-, Krankheits- oder Vergiftungsgefahr besteht.
Eigentlich sollten auf Grund eines internationalen Übereinkommens und dem darauf beruhenden Artikel 29 des Arbeitsgesetzes solche Arbeiten für Jugendliche zum Schutze des Lebens oder der Gesundheit untersagt werden. Allerdings bestimmt dieses Übereinkommen auch, dass es nicht anwendbar ist, sofern die Arbeiten Bestandteil eines Ausbildungsprogrammes – also beispielsweise der Berufsbildung - sind. Die bisherige Verordnung 5 erlaubt denn auch, für Jugendliche ab 16 Jahren Ausnahmen vorzusehen, sofern dies für die Ausbildung notwendig ist. Dabei müssen allerdings Massnahmen der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes festgelegt werden.
Wie das etwa aussieht, kann am Beispiel der Bildungsverordnung für den Maurerberuf illustriert werden. Da heisst es in Artikel 7 zum Thema Arbeitssicherheit, Gesundheitsschutz und Umweltschutz:
3 In Abweichung von Artikel 4 Absatz 1 ArGV 5 können die Lernenden entsprechend ihrem Ausbildungsstand herangezogen werden für Arbeiten mit Maschinen, Ausrüstungen oder Werkzeugen, die mit Unfallgefahren verbunden sind, von denen anzunehmen ist, dass Jugendliche sie normalerweise wegen mangelnden Sicherheitsbewusstseins oder wegen mangelnder Erfahrung oder Ausbildung nicht erkennen oder nicht abwenden können.
4 Voraussetzung ist eine den erhöhten Gefährdungen angepasste verstärkte Ausbildung, Anleitung und Überwachung; diese werden in Leistungszielen zu Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz im Bildungsplan festgelegt.

Die Lernenden in der Berufsbildung können somit zu Arbeiten beigezogen werden, die mit einer erhöhten Gefährdung verbunden sind. Dabei geht es um Unfallgefahren, von denen anzunehmen ist, dass Jugendliche sie normalerweise nicht erkennen oder nicht abwenden können. Mit angepassten Massnahmen zum Gesundheitsschutz will man allerdings dem erhöhten Risiko vorbeugen.


Bereits heute sind - offensichtlich trotz dieser begleitenden Massnahmen - rund 25‘000 Berufsunfälle in Lehrverhältnissen zu verzeichnen (Erläuternder Bericht des Seco). Gemessen an den rund 200‘000 Lehrverhältnissen sind das 125 Unfälle pro 1000 Lehrverhältnissen, oder jährlich passiert in jedem 8. Lehrverhältnis ein Unfall, der den Beizug einer Unfallversicherung notwendig macht.
Besonders hoch ist das Risiko – über alle Arbeitnehmer gesehen – in der Bauwirtschaft. Es beträgt gemäss Grafik 1 rund 184.5 Fälle pro 1000 Vollbeschäftigte und ist damit fast dreimal so hoch wie bei der Gesamtheit der Beschäftigten.  


Gleichzeitig geht aus der SSUV Fünfjahresstatistik hervor, dass in allen Branchen die Jugendlichen besonders gefährdet sind. Die im Gesetz und in der bisherigen Verordnung 5 geäusserte Vermutung, dass Jugendliche „wegen mangelnden Sicherheitsbewusstseins oder wegen mangelnder Erfahrung oder Ausbildung“ besonderen Risiken ausgesetzt sind, bestätigt sich somit. So weisen etwa 15-24 jährige Männer ein fast doppelt so hohes Risiko auf als die Gesamtheit der berufstätigen Männer.



Diese Zahlen sind eindeutig zu hoch und geben zu denken. Offensichtlich zeigt hier der Übergang von der pädagogischen Logik der obligatorischen Schule zur ökonomischen Logik der Berufsausbildung seine Auswirkungen: Wenn unter wirtschaftlichem Druck produziert werden muss, wird der Gesundheitsschutz der Jugendlichen sekundär. Jedenfalls ist es angesichts der überdurchschnittlich häufigen Unfälle in Lehrverhältnissen und bei Jugendlichen nicht zu verantworten, einfach das Schutzalter zu senken.
Dies sieht auch das Seco so. Es ist deshalb vorgesehen, in den Verordnungsbestimmungen den Unfallschutz auszubauen, Massnahmen der Arbeitssicherheit in den Bildungsplänen zu verankern und vermehrt Expertinnen und Experten beizuziehen. Gleichzeitig werden Präventionsmassnahmen  und Kampagnen, die sich an die Lernenden und die Ausbildner richten durchgeführt. Ziel ist es, in den nächsten Jahren die Zahl der Berufsunfälle in der Lehrzeit zu halbieren. Allerdings ist die Wirksamkeit dieser Massnahmen noch keineswegs gewährleistet, da ja auch bisher gefährliche Arbeiten von Jugendlichen nur durchgeführt werden durften, wenn entsprechenden Anleitungs- und Schutzmassnahmen ergriffen wurden. Mit wenig Erfolg, wie die Zahlen zeigen.
Wenn unsere Hypothese stimmt, dass die Berufsunfälle wesentlich durch die ökonomische Logik beeinflusst sind, müssen auch die Massnahmen bei dieser ökonomischen Logik ansetzen, zum Beispiel mit Sanktionen, falls das Risiko mehr als 100 Unfälle pro 1000 Arbeitnehmende beträgt. Und wenn einzelne Betriebe oder gar ganzen Branchen exzessive Unfallzahlen ausweisen, und damit anzeigen, dass sie nicht in der Lage sind, die Gesundheit und Unversehrtheit der Jugendlichen, die ihnen zur Ausbildung anvertraut werden, zu schützen, ist ihnen die Berechtigung zur Berufsausbildung zu entziehen.  
Fazit
Der Vorschlag des Seco zur Änderung der Jugendarbeitsschutzverordnung führt zu folgenden Feststellungen:
  • Die Zahl der Berufsunfälle ist erschreckend hoch (Unfallstatistik 2013 bzw. Fünfjahresstatistik 2007 der SSUV). Dabei weisen die jüngeren Altersgruppen, bzw. die Lernenden in der Ausbildung ein überproportionales Unfallrisiko auf. Das sind wohl Auswirkungen des Wechsels von der pädagogischen Logik der obligatorischen Schule zur ökonomischen Logik der Berufsausbildung. In einzelnen Branchen ist das Risiko exzessiv hoch.
  • Heute gilt die Grundregel, dass Jugendliche bis zum 18. Altersjahr nicht mit gefährlichen Arbeitssituationen in Kontakt kommen dürfen. Ausnahmen sind ab dem 16. Altersjahr für Lernende der Berufsausbildung erlaubt, wenn entsprechende Begleitmassnahmen zum Gesundheitsschutz ergriffen werden. Das Seco möchte nun diese Altersgrenze auf 15 Jahre senken.
  • Da die Auflagen zu Begleitmassnahmen bisher nur wenig Wirkung zeigten, schlägt das Seco ein griffigeres Instrumentarium vor, ohne allerdings bei der ökonomischen Logik anzusetzen. Die Wirksamkeit dieser neuen Massnahmen ist denn auch noch keineswegs belegt. 

Angesichts dieses Sachverhaltes sind wohl folgende Konsequenzen angesagt:
  • Da die Unfallzahlen mit der Jugendlichkeit der Arbeitsnehmenden bzw. der Lernenden zunehmen, ist angesichts des hohen ausgewiesenen Risikos eine Senkung des Schutzalters kaum zu verantworten.
  • Die zusätzlichen Massnahmen, welche das Seco vorschlägt, sind zu unterstützen. Falls damit bis 2018, wie vorgesehen, die Halbierung der Unfallzahlen effektiv gelingt, und sich die Situation vor allem für die Jugendlichen entscheidend bessert, kann erneut über die Altersgrenze diskutiert werden. Allenfalls ist auch vorzusehen, bei der ökonomischen Logik der Unternehmen anzusetzen.
  • Wenn einzelne Betriebe oder Branchen exzessiv hohe Unfallzahlen aufweisen, ist ihnen die Berechtigung zur Berufsausbildung zu entziehen. Sie sind offensichtlich nicht in der Lage, die Gesundheit und Unversehrtheit der Jugendlichen zu schützen, die ihnen zur Ausbildung anvertraut werden.