02.09.2014

Bildungsgraben

Heinz Gilomen
Nach der Abstimmung vom 9. Februar wurde viel über die politischen Gräben der Schweiz diskutiert. Hier wird ein neuer „Graben“ vorgestellt: Der Bildungsgraben. Je höher der Anteil an Hochschulabschlüssen in einem Bezirk, umso tiefer die Zustimmung zur Masseneinwanderungs-Initiative. Und umgekehrt: Je höher der Anteil an Berufsbildungsabschlüssen, umso höher die Zustimmung.
Politische Gräben. Nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014 zur Masseneinwanderungs-Initiative wurde viel zu den politischen Gräben in der Schweiz geschrieben, insbesondere zum Stadt-Land-Graben und zum Röstigraben. Ja, auch der Generationengraben wurde bemüht. Und gerade rechtzeitig hat uns Werner Seitz (2014) seine Geschichte der politischen Gräben vorgelegt. Er geht aus von Stein Rokkans Konzept der „Cleavages“ (*Lipset und Rokkan 1967), welche gemäss Seitz (S.18) in der Politikwissenschaft häufig als ideologisch und organisatorisch verfestigte Konfliktlinien definiert werden. Kerr (1974) hat dann den Begriff der „Cross-cutting cleavages“ geprägt und damit auf das Phänomen hingewiesen, dass sich regionale Konfliktlinien oft überschneiden, also etwa wirtschaftliche, konfessionelle und sprachliche Differenzen nicht denselben geografischen Grenzlinien folgen. Solche Überschneidungen verhindern, dass sich die Antagonismen zu einer explosiven Situation entwickeln. 
Seitz zeigt uns anhand regionaler Abstimmungs- und Wahlresultate die historische Dimension der politischen Gräben in der Schweiz. Wobei er statt von „Cleavages“ vielmehr von „unterschiedlichen Weltbildern, Werten, Interessen oder Haltungen diesseits und jenseits der poltischen Gräben“ (S.18) spricht und dabei die konfessionellen, sprachregionalen und die Stadt-Land-Gegensätze als Gräben analysiert. Seine Untersuchung bestätigt die thematische Abhängigkeit der Relevanz einzelner Gräben (je nach Abstimmungsthema sind andere Gräben von besonderer Bedeutung) und implizit auch die These der Cross-cutting cleavages.
Der Bildungsgraben. Diesen üblicherweise diskutierten Unterschiedlichkeiten soll hier eine zusätzliche Dimension zugefügt werden: Der Bildungsgraben. Der Bildungsstand der Bevölkerung ist regional ebenfalls unterschiedlich und die Differenzen sind beachtlich: Gemäss einer Sonderauswertung des BFS besitzen etwa im Bezirk[1] Leuk im Kanton Wallis 11.5% der Bevölkerung einen Abschluss auf Tertärstufe (typischer Abschluss: Hochschule); im Bezirk der Stadt Zürich sind es mit 42.2% fast vier Mal mehr.

Und bei den Abschlüssen auf Sekundarstufe II (typischer Abschluss: Berufsbildung) sind die Unterschiede ähnlich gross: 32.8% im Bezirk Lausanne und fast doppelt so viel mit 62.7% im Bezirk Oberklettgau im Kanton Schaffhausen. Der Bevölkerungsanteil ohne nachobligatorischen Abschluss schwankt von 15.1% im Bezirk Meilen (ZH) bis zu 40.3% im Bezirk Martigny (VS).
Bekanntlich weisen auch die Abstimmungsresultate zur Masseneinwanderungs-Initiative beträchtliche regionale Differenzen auf: So stimmten in den städtischen Bezirken Zürich und Lausanne nur 33.4%, im Bezirk Riviera (TI) hingegen 74.4% der Stimmenden der Initiative zu (BFS 2014)
Der Bildungsstand der Bevölkerung als wichtiger Faktor. Die Frage stellt sich nun, ob der Bildungsstand der Bevölkerung etwas mit dem Abstimmungsresultat zu tun hat. Wir setzen deshalb die Variablen Bildungsstand und JA-Stimmenanteile in einer Regressionsrechnung miteinander in Beziehung und stellen fest, dass der Anteil der Abschlüsse auf Tertiärstufe (typischer Abschluss: Hochschule) einen starken negativen Zusammenhang mit dem Abstimmungsresultat aufweist (Korrelationskoeffizient r=-0.55).


Deutlich sehen wir rechts unten beispielsweise die Bezirke von Zürich, Nyon, Lavaux-Oron oder Meilen, in welchen rund zwei Fünftel der Bevölkerung, also rund 40%, einen Bildungsabschluss auf der Tertiärstufe aufweisen. Hier war die Zustimmung zur Initiative klar schwächer als der schweizerische Durchschnitt von ca. 50%. Im Gegensatz dazu stehen links oben etwa die Bezirke von Leuk, Bernina oder Toggenburg, wo tiefe Tertiär-Anteile mit hoher Zustimmung zur Initiative einhergehen. Generell bewegen sich die Bezirke relativ eng um eine Gerade, die von links oben nach rechts unten führt und die Aussage erlaubt: Je höher der Anteil an Abschlüssen der Tertiärstufe, umso tiefer ist die Zustimmung zur Initiative. (Für statistisch Interessierte: Der Determinationskoeffizient beträgt 0.31, die Variation des Bildungsstandes erklärt also fast einen Drittel der unterschiedlichen Ja-Anteile).
Der Zusammenhang zwischen den Anteilen der sekundären  Bildungsabschlüsse (typischerweise Berufsbildungsabschlüsse) und den Abstimmungsresultaten ist noch stärker ausgeprägt, geht jedoch in die andere Richtung (Korrelationskoeffizient r= 0.60, Determinationskoeffizient R2=0.37): Je höher die Quote an sekundären Abschlüssen, umso höher ist die Zustimmung zur Initiative.   Die Bevölkerungsanteile ohne nachobligatorischen Bildungsabschluss haben hingegen keinen Zusammenhang mit dem Abstimmungsresultat.
Strukturelle und individuelle Einflussfaktoren.  Natürlich wollen wir nicht in die Falle des ökologischen Fehlschlusses (Robinson 1950) tappen. Die ausgewiesenen Zusammenhänge auf Bezirkseben heissen noch nicht, dass Akademiker die Initiative eher abgelehnt oder Personen mit Berufsausbildung diese eher angenommen haben. Möglicherweise ist der Bildungsstand ja nur ein Indikator für wirtschaftliche und kulturelle Strukturen, die  ihrerseits mehr Weltoffenheit begünstigen. Andererseits zeigt uns der Sozialbericht 2012, dass auch auf individueller Ebene je nach Bildungsstand markante Unterschiede bei Fragen des EU-Beitritts oder der Gleichberechtigung zwischen Schweizern und Ausländern bestehen. Bildungsstand, Bildungskarriere und Bildungsinhalte scheinen neben dem sozio-kulturellen Kontext gerade in politischen Fragen wesentliche Faktoren darzustellen.
                                                                                                                        
Kerr Henry H., (1974). Switzerland: Social Cleavages and Partisan Conflict. London: Sage.
*Lipset, S. M. & Rokkan, S. (1967). Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments: an Introduction, pp. 1–67, in: S.M. Lipset & S. Rokkan (eds.), Party Systems and Voter Alignments: Cross-National Perspectives. New York: Free Press
Robinson, W. S. (1950): Ecological Correlations and the Behavior of Individuals, in: American Sociological Review, Jg. 15, Nr. 2, S. 351-357.
Seitz W. (2014). Geschichte der politischen Gräben in der Schweiz. Zürich: Rüegger
*Zitiert nach Seitz 2014


[1] Da der Bildungsabschluss bei der Volkszählung nur stichprobenartig erfasst wird, können die Informationen nicht auf Gemeindestufe analysiert werden.