23.01.2013

Boudon wäscht weisser


Marina* hat Probleme in der Schule. Nur mit Mühe konnte sie in den vergangenen Jahren vermeiden, in eine Sonderklasse platziert zu werden oder Schuljahre repetieren zu müssen. Marina ist die Tochter von eingewanderten Eltern aus Südeuropa, welche beide keine nachobligatorische Ausbildung abschliessen konnten und deshalb nur Jobs finden, welche finanziell keine grossen Sprünge erlauben. Die Eltern würden zwar alles für ihre Tochter tun, ihre Möglichkeiten sind allerdings beschränkt; sowohl finanziell als auch von der Ausbildung her. Auch mit ihrem Beziehungsnetz können sie ihr Kind nur wenig bei seinen Schulproblemen unterstützen. 

Marinas Probleme sind typisch für Kinder aus benachteiligten Familien. Forschung und Statistik zeigen, dass der Schulerfolg für sie viel schwieriger ist als für Kinder aus oberen Schichten. Selektivität und soziale Ungleichheit werden denn auch in der Bildungswissenschaft langsam (wieder) zum Thema, zumindest bei einigen VertreterInnen - und zaghaft auch in der Bildungspolitik. Vielfach werden dabei Erklärungsmodelle des französischen Soziologen Raymond Boudon beigezogen. Gewissermassen als Vorläufer der Rational Choice Theory begründet sein Ansatz, den er bereits 1973 entwickelt hat, die Schwierigkeiten sozial benachteiligter und die Erfolge sozial bevorteilter Kinder in der Schule mit individuellen Merkmalen und Prozessen der Betroffenen und ihrer Familien. Summarisch dargestellt (in Anlehnung an Becker 2009) funktioniert das etwa so:


Nach diesem Modell sind also Marinas Probleme hausgemacht.  Einerseits sind beim Eintritt in die Primarschule ihre vorschulischen Fähigkeiten, insbesondere die sprachlichen Kompetenzen,  weniger weit entwickelt als bei ihren KameradInnen aus besserem Hause. Zudem können die Eltern ihre Tochterauch weniger bei den Hausaufgaben unterstützen, und sie besitzen auch weniger Durchsetzungsvermögen, um ihre Interessen gegenüber der Schule geltend zu machen; wahrscheinlich sitzen sie nicht in der Schulkommission und kennen auch niemanden, der dort mitwirkt. Schliesslich sind sie weniger ehrgeizig und geben sich bereits mit einer minimalen Schulbildung zufrieden; weiterführende Bildungskarrieren würden ja nur kosten und solche Investitionen sind zu riskant. Soweit also das Erklärungsmodell von Raymond Boudon.

Aber HALT! Da ist doch noch ein Akteur, der in diesem Feld mitspielt: Das Bildungswesen, die Schule. Dieser Akteur wird bei Boudon quasi weissgewaschen. Er wird von der Verantwortung für die Weiterführung sozialer Ungleichheiten entbunden. Dabei zeigt doch der andere grosse Soziologe aus Frankreich, Pierre Bourdieu, zusammen mit Jean-Claude Passeron (1970), wie sehr die Funktionsweise der Schule, ihre Mittelstands- und Oberschichtskultur, ihr „Habitus“ zur Reproduktion gesellschaftlicher  Hierarchien beiträgt. Und seit Bourdieu-Passeron haben in aller Welt die Wissenschaftler die Verantwortung der Schule in diesem Bereich dokumentiert und die schulischen Mechanismen der Benachteiligung sozial Schwächerer analysiert. In späteren Beträgen wird auf diese Mechanismen einzutreten sein.

Hier geht es vorerst darum, die Verantwortung der Bildungsakteure in diesem Bereich wieder herzustellen. Und dabei auch ihre Kompetenz anzuerkennen. Denn sie können das; sie sind durchaus kompetent, die richtigen Massnahmen zu treffen, um die aus der Herkunft entstehenden Massnahmen zu treffen: Ausbau der vorschulischen Bildungsangebote (und zwar vor dem HarmoS- Schuleintrittsalter von 4 Jahren), grundsätzlich Integration der Schwächeren und Benachteiligten, Tagesschulen, Hinausschieben der Selektion, Ent-Ökonomisierung der Sekundarstufe II, Unterstützung auf der Tertiärstufe, Förderung im Erwachsenenalter - so könnte etwa ein Programm aussehen, das sich auf die effektive Chancengleichheit verpflichtet. Andere Länder machen es vor, ohne dass das allgemeine Leistungsniveau sinkt - im Gegenteil. Also gehen wir an die Arbeit.

Becker, Rolf (2010). Entstehung und Reproduktion dauerhafter Bildungseinrichtungen. In: Becker, Rolf (Hrsg.). Lehrbuch der Bildungssoziologie (S. 85-129). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Bourdieu, Pierre und Passeron Jean-Claude (1970). La Reproduction. Eléments pour une théorie du système d'enseignement. Paris: Les Edition de Minuit.

*Fiktiver Name


21.01.2013

Großbaustelle Bildung


Bildung ist ein beeindruckendes gesellschaftliches Projekt. Gegen 30 Milliarden Franken investiert die öffentliche Hand jährlich, was etwa 20% aller öffentlichen Ausgaben entspricht. Jeder fünfte Einwohner, bzw. jede fünfte Einwohnerin der Schweiz befindet sich als Lernende im Bildungssystem zwischen Kindergarten und Tertiärstufe, dazu kommen weitere Hunderttausende, die an Weiterbildungskursen teilnehmen. Etwa 300‘000 Personen oder 6.5% der Erwerbstätigen sind in Unterrichtsberufen beschäftigt. (Alle Angaben von BFS 2011).


Dieses Grossunternehmen bewegt sich. Entlang der vier gesellschaftlichen Aufträge der Enkulturation, Qualifikation, Selektion und Legitimation (Fend 2006) zeigt das Bildungswesen eine erstaunliche Innovationskraft.  Fachhochschulen und Berufsmaturität, Bologna-Reform,  Pädagogische Hochschulen, Harmonisierung der obligatorischen Schule, Basisstufe, Monitoring, Lehrplanrevision und andere mehr sind die Stichworte der letzten Jahre.
Die gemeinsamen bildungspolitischen Ziele von Bund und EDK zeigen auch für die Zukunft weiteren Handlungsbedarf in den Feldern der Effektivität, Effizienz und Equity, die ja als grundlegende Linien des schweizerischen Bildungsmonitorings definiert sind. Grund genug also angesichts der Reformperspektiven und gewaltigen Investitionen, das Bildungswesen zum Gegenstand der öffentlichen, politischen - und nicht nur der behördenpolitischen - Diskussion zu machen.

Einen Beitrag zur dieser Diskussion zu leisten, ist das Ziel dieses Blogs. In loser Folge werden aktuelle Ereignisse im schweizerischen Bildungswesen kommentiert, wobei dies  auf der Grundlage wissenschaftlicher  Erkenntnisse und statistischer Indikatoren erfolgen soll. Natürlich immer in der Hoffnung auf gute Kommentare und Rückmeldungen, die den Beginn eines fruchtbaren Erfahrungs- und Meinungsaustausches markieren. 

Fend Helmut (2006). Neue Theorie der Schule. Einführung in das Verstehen von Bildungssystemen.  Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften