22.03.2013

Signifikanz statt Relevanz



Signifikanz ist ein Begriff aus der Statistik und bedeutet ,dass ein Parameter, der aus einer Stichprobe gerechnet wurde, also beispielsweise eine Differenz oder eine Korrelation, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch in der Grundpopulation existiert, d.h. nicht zufälligerweise durch das Ziehen der Stichprobe entstand. Je grösser die Stichprobe, desto kleiner ist die Schwankungsbreite der Zufälligkeit und umso eher wird somit ein Parameter als signifikant beurteilt. Bei einer grossen Stichprobe werden deshalb schon kleine Differenzen oder tiefe Korrelationskoeffizienten als im statistischen Sinne signifikant bezeichnet.

Anders als im Sprachgebrauch des Alltages, heisst jedoch statistische Signifikanz noch lange nicht "wichtig" oder "bedeutsam" in einem gesellschaftlichen Sinne. Nicht jeder Unterschied, der zwar statistisch signifikant ist, ist deshalb "relevant", das heisst wichtig als soziale Problematik. Es ist deshalb immer neben der automatischen Berechnung von Signifikanz-Niveaus auch auszuloten, auf Grund etwa theoretischer Überlegungen und Kenntnisse, ob ein Sachverhalt im Sinne der Fragestellung als bedeutsam beurteilt werden darf (siehe etwa Bressoux 2008).

Diese Diskussion kommt mir in den Sinn  bei der Lektüre einer Studie der SKBF - Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung - , welche  unter dem Schlagwort Overeducation - d. h. Überqualifizierung  (gibt es das??) - die Passung zwischen universitärer Ausbildung und Arbeitsmarkt untersucht. Dabei wird festgestellt, dass mehr als 90% der erwerbstätigen Universitäts-Absolventen fünf  Jahre nach Studienabschluss eine Stelle haben, wo sie ihre erworbenen Fähigkeiten einsetzen können und dabei auch noch gut verdienen. Die Studie beruht auf der Selbstdeklaration von Diplomierten der universitären Hochschulen. Grafisch kann man das Hauptergebnis  wie folgt illustrieren:

Situation der erwerbstätigen Universitätsabsolventen 5 Jahre nach Abschluss

Quelle der Angaben: Diem & Wolter 2013


Der Anteil mit einer inadäquaten Stelle ist somit sehr klein. Er wäre noch kleiner, wenn die Absolventen der Medizin und der Rechtswissenschaften - also der spezifisch beruflich ausgerichteten Bereiche - auch eingeschlossen wären und / oder  das Kriterium der Inadäquanz weniger streng  definiert würde.

Da kann man ja den schweizerischen Universitäten nur gratulieren. Sie bilden offensichtlich sehr wirtschaftsnahe aus und vermitteln überwiegend jene Kompetenzen, welche im Arbeitsmarkt auch gesucht werden. Zudem ist Inadäquanz zum grossen Teil eine vorübergehende Erscheinung, fanden doch drei Viertel der Personen, die ein Jahr nach Studienabschluss noch nicht auf einer adäquaten Stelle beschäftigt waren, im Laufe der folgenden vier Jahre eine Beschäftigung, welche ihrer Ausbildung entspricht.  Damit bestätigen die Resultate jene Indikatoren, die für Hochschulabsolventen kleine Arbeitslosenquoten nachweisen und zeigen, dass sich ein Studium nach wie vor lohnt. Auch der Vergleich mit der gesamten Erwerbsbevölkerung oder mit ausländischen Verhältnissen zeigt ein positives Bild für die universitären Absolventen.

Doch von solchen Überlegungen findet sich nur wenig in den Schlussfolgerungen der Studie. Im Gegenteil. Zum Hauptproblem gemacht wird hier der marginale Anteil derjenigen, die nicht adäquat beschäftigt sind,. Mit komplexen multivariaten Berechnungen werden dabei auch Einflussfaktoren bestimmt, wobei natürlich bei einer Stichprobe von mehreren Tausend Befragter viele Resultate als statistisch signifikant beurteilt werden. Und unter der wenig plausiblen Annahme  konstanter Arbeitsverhältnisse werden Einkommen für die gesamte Lebenszeit errechnet und darauf hingewiesen, dass sich für diesen verschwindend kleinen Anteil an inadäquat Beschäftigten ein Studium finanziell nicht lohnt und auch für den Staat ein Verlustgeschäft darstellt. 

Hier wird wohl Signifikanz mit Relevanz verwechselt und eine Randerscheinung zu einem grossen Problem emporstilisiert. Zudem ist auch fragwürdig, wie der Nutzen guter Bildung sowohl für Individuen als auch für die Gesellschaft („den Staat") auf eine rein ökonomische, monetäre Dimension reduziert wird. Menschen sind ja in verschiedenen Rollen tätig, nicht nur als wirtschaftliche Akteure im bezahlten Beruf, sondern beispielsweise auch in der Familie, in der Politik, in der Kultur, in den persönlichen Beziehungen und im weiten Feld der unbezahlten und der Freiwilligenarbeit. Und solche Funktionen sind auch von grossem gesellschaftlichem Wert. Es wäre wohl wünschenswert, wenn die Bildungsökonomie ihren Blickwinkel entsprechend erweitern würde. 

                                                                                                                                
Bressoux, P. (2008). Modélisation statistique appliquée aux sciences sociales. Bruxelles: De Boeck.
Diem, A. & Wolter, S. C. (2013). Nicht ausbildungsadäquate Beschäftigung bei Universitätsabsolventen und -absolventinnen: Determinanten und Konsequenzen: Eine Analyse auf Basis der Schweizer Hochschulabsolventenbefragungen (SKBF Staff Paper 9 No. 9). Aarau: SKBF

04.03.2013

Verbrechergene und Bildungstalente



Früher meinte man, Kriminalität sei erblich bedingt und könne anhand der äusserlichen Erscheinungen festgestellt werden. Eine solche biologistische Sichtweise findet sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie beruht auf der soziobiologischen Grundannahme, dass Verhaltensunterschiede vor allem genetisch bedingt seien und bildete die Grundlage für allerlei Gräueltaten - meist rassistisch begründet - im 20. Jahrhundert. Ein wichtiger Vertreter dieser Richtung war etwa Cesare Lombroso, ein italienischer Arzt und Professor der Gerichtsmedizin, mit seinen Schriften zu Verbrechern und ihren körperlichen Veranlagungen. Auch Samuel R. Wells, der ein umfangreiches Werk zu Physiognomie und Charaktermerkmalen geschrieben hat, vertritt solche Ansätze.
Wells (1875, S.126) ; Horn (2003, S 22)
  

Bis man sich bewusst wurde, dass Kriminalität eine gesellschaftliche Konstruktion ist.  Kriminell ist, was von der Gesellschaft - dem Gesetzgeber - als kriminell  bezeichnet wird. Z.B. sind 72 Mio Abgangsentschädigung für einen Wirtschaftsführer nicht kriminell. Hingegen ist Ladendiebstahl ein Gesetzesbruch. Und langsam setz sich auch die Erkenntnis durch, dass deviante Verhaltensweisen nicht angeboren und ererbt, sondern ebenfalls - mit einigen wenigen Ausnahmen - sozial gemacht sind: Menschen wachsen in unterschiedliche soziale und kulturelle Welten hinein und leben unter unterschiedlichsten Lebensbedingungen, welche auch zu unterschiedlichen Verhaltensmustern führen.


In der Bildung sind wir noch nicht so weit. Zwar meint Duru-Bellat (2002), kein seriöser Wissenschaftler würde heute noch die Vererbung als entscheidenden Prozess der intellektuellen Entwicklung betrachten, im Alltag der Bildungsdiskussion jedoch wird nach wie vor in diesen Kategorien gedacht und gehandelt. Da wird von „Begabten“ und „wenig Begabten“ gesprochen, als ob schulische Eignungen eine genetisch bedingte, angeborene  Eigenschaft wäre. Auch das sogenannte meritokratische Prinzip mit der Formel Schulerfolg = Talent + Leistung beruht im Grunde genommen auf solchen Annahmen. Dabei werden „Begabte“ speziell gefördert und haben eine strahlende Zukunft vor sich. Und so wie Kriminelle in Anstalten abgeschoben werden, um sie zu "re-sozialisieren", werden in der Schule „weniger Begabte“ in Sonderklassen und Sonderschulen platziert, um ihre intellektuellen Defizite zu beheben. Stigmatisiert werden beide und vielfach sind es, in beiden Fällen, diese Korrekturmassnahmen und ihre stigmatisierende Wirkung, welche für die Integrationsprobleme in die Gesellschaft verantwortlich sind. Also gerade das Gegenteil von dem, was vordergründig beabsichtigt wird.

Auch in der Bildung wird vergessen, dass die schulischen Standards nicht vom Himmel fallen, sondern gesellschaftliche Konstrukte darstellen. Dass Sprache, Mathematik und Naturwissenschaften wichtiger sind als Geographie, Turnen  und Musik, ist nicht gottgegeben, sondern von uns Menschen so festgesetzt. Und dass einige Kinder mit diesen Standards besser und andere weniger gut zurechtkommen, ist auch nicht genetisch bedingt oder von einer höheren Macht vermittelt, sondern vielfach die Folge davon, dass diese Standards eben den Sozialisationsbedingungen einzelner Bevölkerungsgruppen besser oder weniger gut entsprechen.

Die schlechten SchülerInnen sollten sich also merken (und die guten ebenso), dass ihre schwache / starke Position in der Schule nicht Schicksal ist, nicht vom Indianer im Baum oder anderen höheren Mächten so zugeteilt sind, sondern gesellschaftlich gewollt und somit korrigierbar ist. Sowohl auf der individuellen Ebene als auch strukturell, durch andere Leistungsdefinitionen, durch andere strukturelle Ausgestaltungen und durch andere Prozesse der Förderung und der Selektion.
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Duru-Bellat, Marie (2002), Les inégalités sociales à l'école. Genèse et mythes. Paris: Presse Universitaire de France
Horn,David G.(2003), The Criminal Body: Lombroso and the Anatomy of Deviance. New York: Routledge. 
Lombroso, Cesare (1894), Der Verbrecher (homo delinquens) in anthropologischer, ärztlicher und jusristischer Beziehung . Hamburg: Verlagsanstalt und Druckerei AG
Wells, Samuel R.(1875), The New Physiognomy or Signs of Character as Manifested through Temperament  and External Forms and Especially in “The Human Face Divine”.  New York: S.R. Wells Publisher