17.12.2014

Nachhilfe fürs Gymi – Na und?

Heinz Gilomen
Zahlreiche Schülerinnen und Schüler der Oberstufe brauchen Nachhilfe-Unterricht, um ins Gymnasium zu kommen. Das beweist nichts anderes, als dass die akademische Eignung „gemacht“ werden kann und wenig mit Begabung zu tun hat. Die Frage ist nur, warum die Schule diesen bescheidenen Zusatzaufwand nicht selbst betreibt.
Kürzlich gab es etwas Aufregung in den Schweizer Medien: Eine Studie der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung (SKBF) hat ergeben, dass rund jede(r) dritte Schüler(in) im 8. und 9. Schuljahr Nachhilfe benötigt. Innerhalb von drei Jahren ist der Prozentsatz von 30 auf 34% gestiegen, was laut dem Direktor der SKBF „enorm“ ist1). (Na ja…, siehe auch Signifikanz und Relevanz). Die Jugendlichen gehen vor allem in den bezahlten Nachhilfeunterricht, um bessere Chancen zu haben, ins Gymnasium zu kommen. Dadurch werden Kinder von Eltern mit höherem Einkommen bevorteilt.

Meritokratie entzaubert - Teil 1: Das Akademiker-Gen. Nun glauben wir ja alle an das Leistungsprinzip: Erfolg hat, wer etwas leistet. Dabei ist nicht nur der Aufwand wichtig, sondern auch die sogenannte Begabung. Michael Young hat das 1958,2) als Meritokratie formuliert (Man kriegt, was man verdient): 


Nun zeigen allerdings die Resultate der SKBF-Studie, dass die Eignung für das Gymnasium und die universitäre Laufbahn produziert werden kann. Begabung ist nicht so wichtig. Ein paar Stunden Zusatzaufwand, und schon wird aus einem mittelmässigen Schüler offensichtlich ein Maturitätskandidat. Bereits Jürg Jegge (1994)3) meinte ja vor rund 40 Jahren „Dummheit ist lernbar“; gescheit sein offensichtlich auch. 
Damit können wir beim Prinzip der Meritokratie, das den Schulerfolg als Funktion von Talent und Fleiss sieht, den ersten Teil schon mal streichen:


Es wäre ja auch absurd, zu glauben, dass bei der Geburt der liebe Gott (oder sonst jemand) bei ca. 20% der Kinder willkürlich ein Akademiker-Gen einpflanzt, das dann im Laufe der Bildungskarriere nur noch aufgedeckt werden müsste. Und wenn wir uns die Verteilung der kantonalen Maturitätsquoten unter diesem Blickwinkel anschauen, würde die These ja noch unglaubwürdiger. 

     Heinz Gilomen 2014  / Daten: BFS

Die armen St. Galler! Die werden bei der Verteilung der Akademiker-Gene ja richtig benachteiligt – und dies übrigens seit Jahren! Dafür habe es die Tessiner, Basler und Genfer gut: Sie kriegen fast 2.5 Mal mehr universitäre Anwärter als die Ostschweizer. Aber Spass beiseite – bei der Begabungs-These müssen wir offensichtlich grosse Fragezeichen setzen (siehe dazu auch Verbrechergene und Bildungstalente).


Auch die SKBF Studie spricht davon, dass die Kantone unterschiedliche Maturitätsquoten aufweisen, „die nicht durch Unterschiede in den Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu erklären sind“ (S.19). Und in derselben Ausgabe der Sonntagszeitung1) wird auf eine Untersuchung von Elsbeth Stern der ETHZ verwiesen, gemäss der rund ein Drittel der Gymnasiasten einen zu geringen Intelligenzquotienten aufweist. Das zeigt ja auch die Fragwürdigkeit des IQs als Indikator des Bildungserfolges. Offensichtlich hat die sogenannte Begabung nur einen untergeordneten Einfluss, und es sind andere Faktoren am Werk. Wir können also getrost auf den Talent-Teil in der Meritokratie-Formel verzichten.


Meritokratie entzaubert - Teil 2: Das Fleiss-Gen. Dafür scheint der zweite Teil der Gleichung aufzugehen, wird doch der Nachhilfe-Unterricht in den Kontext der Zugangschancen zum Gymnasium gestellt: Zusätzlicher Aufwand, also Nachhilfe, wird belohnt und die Chancen auf einen Platz im Gymnasium steigen. Also ohne Fleiss kein Preis, bzw. mit viel Fleiss winkt der Gymi-Preis.

Aber so einfach ist die Sache auch hier nicht. Die Rest-Gleichung Talent + Fleiss = Erfolg würde eigentlich heissen, dass mit gleichem Aufwand der gleiche Erfolg eintreten sollte.
Das würde ja aber in Bezug auf die oben stehende Grafik auch heissen, dass Tessiner, Basler und Genfer mit ihrer hohen Maturaquote fleissiger sind, und etwa St. Galler, Thurgauer oder Solothurner wesentlich fauler. Die Kinder der ersten drei Kantone würden dann gewissermassen vermehrt mit einem Fleiss-Gen bedacht, das in den letzteren Kantonen nur selten zum Zuge kommt. Auch das ist wohl keine überzeugende Erklärung.
Zudem müssten ja jene Kantone, in denen mehr Nachhilfe konsumiert wird, also fleissiger Aufwand betrieben wird, auch höhere Maturitätsquoten haben. Und umgekehrt. Allerdings zeigt die SKBF-Studie, dass im Gegenteil die Nachfrage nach Nachhilfe steigt, je niedriger die Maturitätsquote in einem Kanton liegt; dies vor allem auch von guten Schülerinnen und Schülern.


Es gehe also nicht darum, mit einem Zusatzaufwand seine Kompetenzen auf ein imaginäres allgemeingültiges gymnasiales Niveau zu bringen, sondern je nach kantonalen Rahmenbedingungen im Wettbewerb um gymnasiale Plätze einfach etwas besser dazustehen als die anderen (S. 19). Meritokratie und Leistungsprinzip nur innerhalb des jeweiligen Kantons also. 

Kantone sind jedoch keine homogenen Gebilde. Gemäss einer Studie des Kantons Bern sind die Differenzen zwischen den einzelnen Gemeinden enorm, wenn es um die Zuteilung auf verschiedene Niveaus der Sekundarstufe geht. Und da fallen ja folgenschwere Entscheide in Bezug auf die weitere Bildungskarriere. So werden beispielsweise in der einen Gemeinde nur 3% der Schüler und Schülerinnen in die Stufen mit dem tiefsten Niveau eingeteilt, am anderen Extrem sind es 63%. Dies mit unterschiedlichen Begabungen oder mit unterschiedlichem Fleiss erklären zu wollen, wäre wohl abenteuerlich. Damit können wir ja nun auch den zweiten Teil des Meritokratie-Prinzips mit grossen Fragezeichen versehen:


„Bildungserfolg ist käuflich“ – Spuren der Erklärung. Winfried Kronig (2007)4) hat die Merkwürdigkeiten und Irritationen bei der schulischen Selektion detailliert analysiert. „Der Zusammenhang zwischen den Selektionsempfehlungen und der sozialen Herkunft ist unverantwortlich eng“ (S.215) fasst er zusammen. Und Stefan Wolter, einer der Autoren der SKBF-Studie meint, „dass ein Teil der Bildung käuflich ist“1). Zudem habe ich anderswo aufgezeigt, dass das Ausmass von Selektionsentscheiden in die tiefsten Leistungsniveaus auch von den politischen Stärkenverhältnissen auf lokaler Ebene bestimmt wird (Heinz Gilomen 2014,)5). So können wir also unsere Gleichung wie folgt anpassen:


Der Bildungserfolg wird also wesentlich von der sozialen Herkunft bestimmt. Die Modalitäten des Erfolges sowie die Stärke der sozialen Ungleichheit in der Selektion hängen jedoch auch erheblich von den politischen Strukturen ab. Und das ist eigentlich die gute Nachricht, denn solche Strukturen sind ja veränderbar. Wir müssen es nur wollen.
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1)     Sonntagszeitung vom 9. November 2014
2)     Michael Young (1958). The Rise of Meritocracy:  An Essay on Education and Equality. London: Thames and Hudson
3)     Jürg Jegge (1976). Dummheit ist lernbar. Erfahrungen mit "Schulversagern"..., Gümligen: Zytglogge
4)     Winfried Kronig (2007). Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolges. Bern – Stuttgart – Wien: Haupt
5)   Heinz Gilomen (2014). Selection and Marginalization in Education as a Political Process. In: Tania Zittoun and Antonio Iannacone (Eds.), Activities of Thinking in Social Spaces (pp 219-241). New York: Nova Publishers


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